Psychasthenie: die Kraftlosigkeit der Seele oder das irrationale Leiden

Psychasthenie ist Bezeichnung, die heute als Persönlichkeitsmerkmal definiert wird, das häufig mit Zwangsstörungen einhergeht.
Psychasthenie: die Kraftlosigkeit der Seele oder das irrationale Leiden
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 08. September 2023

Psychasthenie ist eine historische Bezeichnung im Bereich der Psychologie. Diese entstand Anfang 1903, um das Leiden der menschlichen Seele zu beschreiben. Den Schmerz derer, die sich verloren fühlen und sich selbst nicht vertrauen. Diese existenzielle Angst führt die Person zu ständiger Unruhe, zwanghaftem Denken, Phobien und einem Zustand anhaltender und fast immer irrationaler Angst.

Heute hat sich die Auffassung über diesen Zustand verändert: Er wird als Persönlichkeitsmerkmal aufgefasst und ist in Inventaren wie dem MMPI (Minnesota Multiphasic Personality Inventory) zu finden. Der Psychiater Pierre Janet prägte diese Bezeichnung mit seinem Werk “Les obsessions et la psychasthénie”.

Wir könnten die psychasthenische Person als jemanden definieren, der nicht in der Lage ist, den Lärm in seinem Kopf abzuschalten, genauso wenig wie die entkräftenden Sorgen und die Probleme, die er nicht zu lösen weiß. Dieses ständige Grübeln setzt Betroffene einer großen Erschöpfung und einer tiefen Hilflosigkeit aus, in der sie keine Kontrolle darüber haben, was um sie herum geschieht.

Persönlichkeiten wie Carl Gustav Jung oder Karl Jaspers interessierten sich für dieses Persönlichkeitsmerkmal. Heute wird Psychasthenie mit Zwangsstörungen in Verbindung gebracht.

Mann mit Psychasthenie

Was ist Psychasthenie?

Psychasthenie ist jetzt Teil der Unterskala 7 des MMPI-Persönlichkeitsinventars. Dieser Begriff beschreibt eine problematische Art zu sein und zu handeln, die häufig im Zusammenhang mit Zwangsstörungen auftritt. Es handelt sich um eine Eigenschaft, die von ständigen Zweifeln, ergreifenden Ängsten und großer körperlicher Erschöpfung gekennzeichnet ist.

Obwohl dieser Begriff in der Vergangenheit als diagnostische Kategorie verwendet wurde, beschreibt er heute also nur noch eine Persönlichkeitseigenschaft. D.h. Psychasthenie erscheint nicht als solche im Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen (DSM-V).

Doch angesichts der Bedeutung in der Psychologie – und auch wegen der Auffälligkeit des Wortes selbst – lohnt es sich, mehr darüber zu erfahren.

Psychasthenie war eine Neurose-Art

Der Psychiater Pierre Jane teilte Neurosen in zwei Typen ein: hysterische und psychasthenische. Während erstere im Wesentlichen emotionale Störungen bezeichneten, die mit Krämpfen oder Lähmungen einhergingen, waren letztere etwas komplexer.

Bezeichnend war dabei das Problem, die Realität und die Veränderungen im Leben zu akzeptieren. Betroffene waren wegen ihres Leids blockiert und unfähig, dies zu überwinden. Sie waren in der Verleugnung, in der Besessenheit, in der Verzweiflung gefangen und weigerten sich, ihre Umgebung zu akzeptieren.

Der Psychastheniker war ein hochgradig reizbarer Neurotiker, der in seinem eigenen Leiden versank, weil er nicht wusste, wie er die Zukunft des Lebens akzeptieren sollte. Und diese Verleugnung führte dazu, dass er allmählich einen zunehmend pathologischen Geisteszustand entwickelte.

Welche Merkmale zeichnen diese Dimension aus?

Psychasthenie zeigt eine breite Symptomatik. Heute ist dieses Persönlichkeitsmerkmal für uns von Nutzen, weil es – wie bereits erwähnt – bei Patienten mit Zwangsstörungen häufig zu beobachten ist. Folgende Anzeichen weisen auf Psychasthenie hin:

  • Hohe Ängstlichkeit, zwanghaftes Denken und ständiges Grübeln.
  • Das Gefühl, keine Kontrolle zu haben.
  • Sie sind ängstlich, unsicher und beunruhigt.
  • Sie zeigen negative Gedanken und eine ausgeprägte Hoffnungslosigkeit.
  • Es fällt ihnen schwer, Entscheidungen zu treffen.
  • Sie werden von irrationalen Ängsten und Phobien gepackt.
  • Sie tun sich schwer, ihre Gefühle zu regulieren.
  • Außerdem neigen sie zu Selbstkritik.
  • Sie fühlen sich weltfremd, verstehen die Welt nicht und sind nicht integriert, was zu intellektueller und sozialer Hemmung führt.
  • Sie können Veränderungen nicht akzeptieren, da sie geistig sehr unflexibel sind.
  • Diese ständige geistige Anstrengung und die Tatsache, dass sie immer wieder die gleichen Dinge wiederholen, führt zu einem Zustand großer körperlicher Erschöpfung.
  • Sie leiden unter Schlaflosigkeit.
  • Außerdem leiden sie häufig unter nervösen Ticks und psychosomatischen Erkrankungen.
Mann mit Psychasthenie

Die Kraftlosigkeit der Seele

Im frühen 20. Jahrhundert wurde die Psychasthenie oft als Kraftlosigkeit der Seele bezeichnet. Mit dieser poetischen Beschreibung wurde deutlich, dass wir Menschen uns oft in einer existenziellen Ecke gefangen fühlen und nicht wissen, wohin wir uns wenden können. Die Welt erscheint fremd, ohne Sinn und Verstand. Dann zieht man sich in sich selbst zurück und entgleitet allen und allem.

Wer flieht, stärkt die Angst und das ist der Zeitpunkt, an dem Unsicherheit, irrationales Denken, Besessenheit und sogar Panik zurückkehren. Diese Angst ohne konkreten Ursprung entspringt oft der vitalen Verwirrung der Menschen, die ihren Platz in der Welt einfach nicht finden können. Ihre Seelen finden nichts, woran sie sich festhalten können, und inmitten dieses Kreislaufs von Einsamkeit und Angst entsteht eine extreme Erschöpfung.

Heute gilt diese Art von Definition nicht mehr. Der Begriff Psychasthenie wird jedoch immer noch verwendet, um die Manifestation von Zwangsstörungen zu verstehen. In diesen Fällen zeigen Studien wie die der psychiatrischen Abteilung des Hôtel-Dieu-Krankenhauses (Paris), dass Behandlungen mit Antidepressiva wie Tianeptin sehr wirksam sind.

Die Zeiten ändern sich, aber die klinischen Realitäten haben Vorrang. Denn es geht darum, Betroffene effektiv zu behandeln und ihre Lebensqualität zu gewährleisten.


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