Produktivitätsdysmorphie: Wenn du deinen Erfolg nicht sehen kannst

Zu hohe Ansprüche und der Drang nach Perfektionismus sind eine weitverbreitete Realität. Wir laden dich ein, mit uns darüber nachzudenken.
Produktivitätsdysmorphie: Wenn du deinen Erfolg nicht sehen kannst
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 05. Juni 2023

Die Produktivitätsdysmorphie hindert dich daran, deinen Erfolg und deine Leistungen zu sehen und zu würdigen. Du bist nie so perfekt, wie du gerne sein würdest; deine Bemühungen sind nie ausreichend. Die Journalistin Anna Codrea-Rado¹ hat diese Erfahrung gemacht und beschreibt mit diesem Begriff, was viele erleben: eine verzerrte Wahrnehmung ihrer Produktivität.

Es handelt sich nicht um eine klinische Entität, doch um einen Zustand, der das Hochstaplersyndrom, Angst und extremen Perfektionismus integriert. Die daraus resultierenden Schuldgefühle wirken sich negativ auf die Selbstwahrnehmung aus. Lies weiter, wenn dir diese Situation bekannt vorkommt.

“Intelligente Menschen prokrastinieren schlau.”

Anna Codrea-Rado

Produktivitätsdysmorphie: Was ist das?

Dysmorphie ist ein psychologisches Phänomen, das immer häufiger zu beobachten ist. Das King’s College London beschreibt diese Störung wie folgt: Betroffene beschäftigen sich zwanghaft mit ihrem Körper, sehen Mängel, wo keine sind, und konstruieren verzerrte und negative Wahrnehmung ihres Aussehens, was sich auf alle Alltagsbereiche auswirkt.

Anna Codrea-Rado leitet von dieser Definition den Begriff Produktivitätsdysmorphie ab, um die Diskrepanz zwischen der vollbrachten Leistung und dem Gefühl der Erfolglosigkeit zu erklären. Es entsteht ein Zustand, in dem wir uns nicht gut genug vorkommen und glauben, noch härter arbeiten zu müssen. Diese Sisyphusarbeit führt zur geistigen Erschöpfung, zu Entmutigung, Frustration und Unzulänglichkeit.

Leide ich an einer Produktivitätsdysmorphie?

Stell dir vor, du bist eine Lehrkraft und bereitest deinen Unterricht gewissenhaft vor. Du gibst dir Mühe, die Inhalte dynamisch, unterhaltsam und sinnvoll zu vermitteln. Deine Schüler haben Spaß und zeigen, dass sie das Fach beherrschen. Trotzdem gehst du jeden Tag mit dem Gefühl nach Hause, versagt zu haben und denkst, dass du mehr tun musst, um bessere Ergebnisse zu erreichen. Das ist der Fluch der Produktivitätsdysmorphie.

Folgende Merkmale sind charakteristisch:

  • Geringes Selbstwertgefühl
  • Ständige Selbstkritik
  • Negative Selbstwahrnehmung
  • Zweifel an den eigenen Talenten
  • Hohe geistige Arbeitsbelastung und Stress
  • Unfähigkeit, deine Leistungen zu würdigen
  • Die Arbeit wird zu deiner einzigen Sorge
  • Unfähigkeit, vergangenes Wissen und Erfolge zu schätzen
  • Unfähigkeit, Freizeit und Erholung zu genießen
  • Gefühle der Unzulänglichkeit gegenüber deiner Leistung
  • Die Vorstellung, dass du irgendwann gefeuert werden wirst
  • Ein Burn-out hindert dich daran, dich auf deine Familie oder andere Bereiche zu konzentrieren.
  • Das Bedürfnis, mehr Zeit als nötig bei der Arbeit zu verbringen
  • Das Gefühl, dass du jeden Moment ein berfusbezogenes Problem verursachen wirst.

Personen, die an einer Produktivitätsdysmorphie leiden, sind nicht in der Lage, sich auszuruhen oder die Freizeit zu genießen. Sie halten sich immer für unproduktiv.

Mögliche Ursachen

Die Produktivitätsdysmorphie ist eine psychologische Realität, ein Produkt unserer Zeit ist. Wir leben in einer schnelllebigen, anspruchsvollen Gesellschaft, in der das Selbstwertgefühl ein zerbrechliches Konstrukt ist. Äußere Zwänge und der Blick in den Spiegel können verräterisch sein, wenn sie uns vormachen, nicht den Erwartungen anderer gerecht zu werden. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle. Wir skizzieren anschließend die wichtigsten.

Impostor-Syndrom

Das Impostor-Syndrom oder Hochstaplersyndrom bezieht sich auf das anhaltende Gefühl, inkompetent zu sein und als Betrüger entlarvt zu werden. Betroffene sind nicht in der Lage, ihre Erfolge zu verinnerlichen, sie haben starke Selbstzweifel und ein negatives Selbstkonzept. Ein Artikel der Zeitschrift Frontiers in Psychology betont, dass dieses Syndrom auch die Analyse des Umfelds erfordert, denn es entsteht nicht nur aus inneren Problemen heraus.

Zwanghafter Perfektionismus

Es ist gut, anspruchsvoll mit sich selbst zu sein, doch zu große Strenge und Selbstkritik sind schädlich. Übermäßiger Perfektionismus ist extrem erschöpfend: Du setzt die persönlichen Standards so hoch, dass du sie nie erreichen wirst. Burn-out und ständige Unzufriedenheit sind vorprogrammiert.

Angststörung

Chronische Angst kann einen erheblichen Einfluss auf die Produktivität und die Wahrnehmung der eigenen Leistung haben. Ein in der Fachzeitschrift Review of Clinical Psychology veröffentlichter Artikel erklärt, dass die generalisierte Angststörung zu ständigen Sorgen und Negativität führt. Viele Personen mit einer Produktivitätsdysmorphie kennen diese Situation.

Produktivitätsdysmorphie und soziale Netzwerke

Wir dürfen die Rolle der sozialen Netzwerke nicht vergessen: Das idealisierte Bild erfolgreicher Menschen, die wir auf Instagram & Co. beobachten, prägt uns weitaus mehr, als wir zugeben möchten. Wir schaffen unrealistische Erwartungen, die das Gefühl der Unzulänglichkeit fördern.

Feindselige und kritische Arbeitsumgebungen

Das Umfeld spielt im Zusammenhang mit psychologischen Problemen ebenfalls eine entscheidende Rolle. Eine Autoritätsperson, die sich ständig abwertend und kritisch äußert, hinterlässt oft tiefe Spuren. Ein feindseliges Umfeld führt vielfach zu Selbstzweifeln und beeinträchtigt das Selbstwertgefühl.

Denk daran, dass deine Leistungen dich nicht definieren. Du bist mehr als dein Job und das Geld, das du verdienst. Deine Selbstwahrnehmung sollte sich nicht auf dein Arbeitsumfeld reduzieren.

Was tun bei einer Produktivitätsdysmorphie?

Zunächst musst du die Ursachen analysieren. Stress, eine generalisierte Angststörung, schlechte Arbeitsbedingungen… Die nötigen Maßnahmen sehen bei jedem anders aus. Denke über folgende allgemeinen Ratschläge nach:

  • Erinnere dich an deine vergangenen Erfolge.
  • Lerne, deine Erfolge zu feiern.
  • Würdige deine Leistungen.
  • Stärke dein Selbstwertgefühl und dein Selbstkonzept.
  • Setze klare Grenzen zwischen deiner Arbeit und deinem Privatleben.
  • Übe dich in Selbstmitgefühl. Höre auf, dein schlimmster Richter und Feind zu sein.
  • Ruhe dich aus, gib dir Zeit, dich körperlich und geistig zu erholen.
  • Stütze dich auf die Menschen, die dich lieben, sprich mit ihnen über deine Gedanken und Sorgen.
  • Überprüfe deine Arbeitsbedingungen und versuche nach Bedarf, sie zu verbessern, um deine psychische Gesundheit zu schützen.
  • Setze dir realistische Ziele. Ein gutes Zeitmanagement kann dir helfen.
  • Übe dich in Selbstfürsorge. Gönne dir jeden Tag einige Stunden Ruhe und Freizeit, um abzuschalten.
  • Verbinde dein Selbstverständnis nicht ausschließlich mit deiner Arbeit. Du bist mehr als nur dein Job.
  • Konzentriere dich auf neue Bereiche der persönlichen Entwicklung. Besuche Kurse, treibe Sport. Das Ziel ist, deinen Geist von der Arbeit abzulenken.
  • Vergiss nicht: Extremer Perfektionismus ist kontraproduktiv. Versuche, die Dinge gut zu machen, aber verlange nicht zu viel von dir.
  • Die kognitive Verhaltenstherapie und die Akzeptanz- und Commitment-Therapie sind nützlich und wirksam bei der Behandlung der Produktivitätsdysmorphie.

Es ist wahr, dass wir alle irgendwann das Gefühl haben, nicht produktiv genug zu sein. Das kann uns dazu veranlassen, uns noch mehr anzustrengen, und das ist auch gut so. Aber wir sollten aufpassen, dass diese Situation nicht zu einer Besessenheit wird.

▶ Lese-Tipp

  1. You’re the Business: How to Build a Successful Career When You Strike Out Alone, Anna Codrea-Rado, Virgin Books 2021

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