Die Leistungsgesellschaft: Sind wir Sklaven der Produktivität?

Warum zwingen wir uns selbst zu einem unerbittlichen Wettlauf, der Erfolg verspricht, während wir auf dem Weg das Wesentliche vergessen und zu Sklaven der Leistungsgesellschaft werden?
Die Leistungsgesellschaft: Sind wir Sklaven der Produktivität?
Elena Sanz

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Elena Sanz.

Letzte Aktualisierung: 11. Februar 2023

Wie oft hast du das Gefühl, dass dir keine Zeit für Spaß, Vergnügen und Erholung bleibt? Obwohl du ständig in Bewegung und aktiv bist, hat der Tag zu wenig Stunden, du schaffst es einfach nicht, alle deine Ziele zu erledigen. Deine Selbstansprüche sind groß, schließlich ist es nicht einfach, alles unter einen Hut zu bringen. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die kein Verständnis für Müßiggang, Trägheit oder Nichtstun hat – auch die knappe Freizeit muss effizient genutzt werden.

Der südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han kritisiert vehement, dass wir Sklaven unseres eigenen Egos und Opfer der Selbstausbeutung sind. In seinem Werk Müdigkeitsgesellschaft¹ befasst er sich mit den kulturellen Faktoren, die zu diesem für unsere Zeit so typischen Übel führen. Wir laden dich heute ein, mit uns darüber nachzudenken.

Gestresste Frau leidet in unserer Leistungsgesellschaft
Die Selbstverpflichtung hindert uns daran, unproduktive Zeiten zu akzeptieren.

Das Leben in unserer modernen Leistungsgesellschaft

Es ist nicht so sehr der äußere Druck, der zur Versklavung führt, sondern wir selbst mit unseren hohen Selbstansprüchen. Moderne Technologien unterstützen uns und geben uns das Gefühl, effizienter und schneller zu sein. Wir haben enorme wissenschaftliche und technische Fortschritte gemacht, die unseren Alltag erleichtern. Wir glauben, in einer freien Welt zu leben, die es uns ermöglicht, uns zu verwirklichen. Die sogenannte Freiheit ist jedoch nur eine Illusion, die zu Frustration und Erschöpfung führt.

Wir sprechen jedoch nicht von einem Einzelfall, sondern von einem kollektiven Phänomen: Auf subtile und kaum wahrnehmbare Weise drängen uns die Gesellschaft, Medien, Unternehmen, Kultur und Umwelt dazu, uns ständig zu verbessern und produktiver zu sein. Mehr Leistung ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Karriere, deshalb laufen wir diesem Ideal hinterher, während wir dabei ersticken und sämtliche Ressourcen aufbrauchen, die uns zur Verfügung stehen.

Die moderne Leistungsgesellschaft nährt sich von verschiedenen Faktoren und Dynamiken, die wir anschließend skizzieren:

Der toxische Positivismus

Positivität ist in Mode: Eine optimistische Einstellung hilft tatsächlich, Wohlbefinden und Gesundheit zu begünstigen, solange wir nicht zum Opfer des Positivismus werden. Zu glauben, dass alles möglich ist, dass die Kontrolle in unserer Hand liegt und wir alle Ziele erreichen können (und müssen) kann sehr frustrierend sein.

Der ständige Vergleich

Soziale Medien machen den Vergleich besonders einfach und offensichtlich: Was machen andere? Wir können teilweise Inspiration finden, doch oft vergessen wir, uns selbst zu analysieren und unsere eigenen Fortschritte zu betrachten. Soziale Netzwerke zeigen kleine Lebensausschnitte, es sind Schaufenster, die uns präsentieren, in denen uns Influencer die schönste Seite ihres Lebens präsentieren. Es sind falsche Vorbilder, die nichts mit unserem eigenen Leben zu tun haben.

Während wir den Erfolg anderer betrachten, fühlen wir uns minderwertig und frustriert, da unser eigenes Leben einer Achterbahn gleicht. Wir bestrafen uns selbst, wenn wir der modernen Leistungsgesellschaft nicht gerecht werden.

Die scheinbare Freiheit

Hinter all dem steht die Vorstellung, dass wir frei sind und es an uns liegt, nach Selbstverwirklichung zu streben. Immer wieder haben wir gehört, dass wir alles sein und erreichen können, dass nichts außerhalb unserer Reichweite liegt. Deshalb setzen wir unrealistische Maßstäbe und verlangen von uns selbst, sie bis zur Erschöpfung zu erfüllen.

Erreichen wir unsere Ziele nicht, brandmarken wir uns selbst als Versager. Schließlich sind einzig und allein wir selbst für unser Wohlbefinden verantwortlich. Wir scheinen absolut autonom zu sein und werden so selbst zu unserem härtesten Richter: Selbstvorwürfe und Selbstverletzungen sind die Antwort.

Produktivität als Synonym für persönlichen Wert

Diese Leistungsgesellschaft wird auch durch den Glauben genährt und aufrechterhalten, dass “mehr tun” immer besser ist. Die meisten von uns haben einen vollen Terminkalender und verbringen jede Sekunde des Tages damit, auf ein Ziel hinzuarbeiten, sei es beruflich oder privat.

Ruhe, Stille, Langeweile und Nachdenken haben keinen Platz in unserer Routine. Wir fühlen uns schuldig, wenn wir untätig sind. Wir glauben durch unsere Produktivität wertvoll zu sein, deshalb erlauben wir es uns nicht, aus dem Hamsterrad auszubrechen.

Konsumsklaven in einer Leistungsgesellschaft

Der Konsum dient uns als Ausweg aus dieser anstrengenden Routine und als Belohnung für unsere Produktivität. Wer Leistung erbringt, hat sich schließlich auch etwas verdient. Doch damit gelangen wir in einen Teufelskreis, der sich selbst nährt und es uns nicht erlaubt, auszubrechen und uns aus der Sklaverei zu befreien. Wir müssen immer mehr leisten, arbeiten und produzieren, um unseren ungesunden Lebensstil aufrechtzuerhalten.

Konsum in unserer Leistungsgesellschaft
Konsum ist ein Fluchtweg, der uns in eine Falle lockt, die uns dazu zwingt, immer mehr zu arbeiten und zu leisten. 

Ausstieg aus der Leistungsgesellschaft

Wir haben eine schädliche Lebensweise normalisiert: Stress, Nervosität und Hyperaktivität erzeugen Ängste, Depressionen und Burn-out. Außerdem belasten sie unsere Beziehungen. Wir sind so sehr auf unsere Leistung, unseren Besitz und unser Karriere konzentriert, dass wir am Ende allein sind und den wahren Sinn im Leben nicht mehr erkennen.

Was tun? Wir müssen lernen, uns von den selbst auferlegten Leistungsstandards zu lösen; das Nichtstun, das zur Reflexion und Meditation einlädt, neu zu entdecken. Kleine Veränderungen können dir dabei helfen:

  • Erlaube dir, die gesamte Bandbreite der menschlichen Emotionen zu fühlen. Es ist nicht immer alles positiv und erfreulich, auch Unbehagen hat eine Funktion. Höre damit auf, dich ständig zu beschäftigen, um deine Gefühle zu begraben.
  • Reduziere deine Selbstansprüche und höre damit auf, unrealistische Ziele zu verfolgen, mit denen du dich unnötig unter Druck setzt.
  • Vergleiche dich mit deiner früheren Version, betrachte deine individuellen Fortschritte, anstatt dich mit unrealistischer Perfektion zu vergleichen, die die es in Wahrheit nicht gibt.
  • Verlangsame dein Tempo, lerne in der Gegenwart zu leben und jede Aktivität in Ruhe zu genießen. Praktiziere Achtsamkeit und nimm dir Zeit für Gespräche mit anderen. Lerne, ohne Schuldgefühle nichts zu tun.
  • Räume Stille und Ruhe im Alltag Platz ein. Denke dabei nicht an Langeweile oder Zeitverschwendung, sondern als Chance, über dich, das Leben und die Welt nachzudenken. In diesen Augenblicken können Kreativität und Wohlbefinden gedeihen.
  • Lerne, den Prozess zu genießen und nicht das Ergebnis. Das bedeutet, flexibel und freundlich zu dir selbst zu sein, Rückschläge und Frustration als natürlichen Teil der Reise zu akzeptieren und dich nicht dafür zu bestrafen und zu entmutigen.

Letztlich erschöpft uns die Leistungsgesellschaft körperlich, geistig und seelisch. Wir müssen das hektische Tempo reduzieren, uns von innerem und äußerem Druck lösen, zurück zur Einfachheit und zu den wahren Werten des Lebens. Warum zwingen wir uns selbst zu einem unerbittlichen Wettlauf, der Erfolg verspricht, während wir auf dem Weg das Wesentliche vergessen und zu Sklaven der Leistungsgesellschaft werden?

Literaturempfehlung

  1. Müdigkeitsgesellschaft, Byung-Chul Han, Matthes & Seitz, 2010

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