Der defensive Pessimist: Ist es immer ein Nachteil, das Schlimmste zu erwarten?

Positiv zu denken und auf das Schicksal zu vertrauen, funktioniert nicht immer. Manchmal ist es nützlich, Herausforderungen oder Widrigkeiten vorwegzunehmen: So sind wir besser vorbereitet und können Bewältigungsstrategien entwickeln.
Der defensive Pessimist: Ist es immer ein Nachteil, das Schlimmste zu erwarten?
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 28. August 2023

Unsere Erwartungen sind oft negativ: Wir gehen vom Scheitern, von Fehlern und Enttäuschungen aus. Auch wenn es keine Gründe dafür gibt, fürchten wir häufig das Schlimmste. Es handelt sich um einen Abwehrmechanismus, der von Angst getrieben wird. Auch wenn wir wiederholt hören, dass wir das halb volle Glas betrachten müssen – und nicht das halb leere –, zieht es uns immer wieder auf die negative Seite. Der defensive Pessimist hat verschiedene Nachteile, doch nicht alles ist schlecht. Schließlich ist Angst ein Überlebensmechanismus und es gibt Zeiten, in denen wir uns leichter tun, wenn wir uns auf das Schlimmste vorbereiten.

Wir analysieren heute, welche Vor- oder Nachteile negative Gedanken haben.

Es gibt Menschen, die immer Wolken am Horizont sehen. Aber anstatt sich von der Angst blockieren zu lassen, denken sie über mögliche Mechanismen nach, um sich vor den Stürmen zu schützen.

der defensive Pessimist
Defensiver Pessimismus ist ein Mechanismus zur Regulierung von Emotionen, der manchmal nützlich sein kann – und manchmal nicht.

Der defensive Pessimist und die adaptive Angst

Defensiver Pessimismus ist eine kognitive Strategie, die in den 1980er-Jahren von der Psychologin und Präsidentin der Rutgers-Newark University Nancy Cantor definiert wurde. Es ist ein Mechanismus, mit dem sich Menschen angesichts angstvoller Situationen auf das Schlimmste vorbereiten. Dabei ist das letzte Detail wichtig.

Denn wir sprechen hier nicht von dem wiederkehrenden Pessimisten, der unter allen Umständen einen negativen Filter einsetzt. Der defensive Pessimist sieht negative Ergebnisse nur bei Ereignissen, die ihm Sorgen bereiten. Ein Beispiel dafür ist der Schüler, der befürchtet, bei den Prüfungen durchzufallen. Oder der Bewerber, der glaubt, im Auswahlverfahren Pech zu haben und deswegen arbeitslos zu bleiben.

Es gibt jedoch eine interessante Nuance, die diese Art von Menschen unterscheidet. In Erwartung möglicher negativer Auswirkungen entwickeln sie eine Haltung, die darauf ausgerichtet ist, ihre Leistung zu verbessern. Sie suchen nach Strategien, um mit jeder herausfordernden, riskanten oder bedrohlichen Situation umzugehen. Einfach ausgedrückt: Auch wenn noch kein Krieg erklärt wurde, bereiten sie sich auf ihn vor.

Ein defensiver Pessimist weiß, wie er die Angst kontrollieren kann, sodass sie ihm als Vorteil und nicht als Hindernis für seine Pläne dient.

Wenn negatives Denken vorteilhaft wird

Die meisten von uns haben verinnerlicht, dass Pessimismus negativ ist und Optimismus unser Leben rettet. Im Laufe der Zeit haben wir jedoch festgestellt, dass positives Denken weder ewiges Glück bringt, noch vor Widrigkeiten schützt. Aber wie schaut es mit dem Pessimismus aus?

Die Psychologin Julie Norem ist bekannt für ihre Forschung zu diesem Thema. In ihrem Buch “The Positive Power of Negative Thinking” (2002) spricht sie über genau diesen Persönlichkeitstyp: den defensiven Pessimisten. Das hier sind die interessantesten Aspekte, die sie hervorhebt:

  • Positives Denken ist manchmal eine unwirksame Bewältigungsstrategie.
  • Das moderne Leben wird von Dutzenden von Zwängen und Herausforderungen bestimmt. Der defensive Pessimist zeichnet sich durch eine adaptive Angst aus, die es ihm ermöglicht, bei Schwierigkeiten eine Haltung der angemessenen Bewältigung zu entwickeln.
  • Manchmal erlaubt uns negatives Denken, Szenarien zu erahnen, auf die wir uns durchaus vorbereiten sollten. Es verschafft uns auch eine gewisse Dosis Realität, indem es das illusorische Denken und die Vorstellung, dass alles gut wird, zum Schweigen bringt.
  • Der defensive Pessimist versucht, diese lähmende Angst zu kontrollieren. Er nutzt sie, um sich zu motivieren und auf jede Wendung des Schicksals zu reagieren.
der defensive Pessimist
Der defensive Pessimist wendet prä-faktisches Denken an, d.h. er versucht, Tatsachen zu analysieren, bevor sie eintreten.

Wie handelt der defensive Pessimist?

Wie bereits erwähnt, lässt sich der defensive Pessimist nicht von jener Negativität mitreißen, die Leistung und Fortschritt blockiert und verhindert. Wir haben es hier nicht mit einer Art von Zuschreibung zu tun, bei der die Person alles negativ sieht, weil sie sich nutzlos, unsicher und oft sogar unglücklich fühlt. Wir sprechen über proaktive Menschen, die eine eindeutig adaptive Angst anwenden.

Können wir also von diesem mentalen Ansatz in unserem täglichen Leben profitieren? In der Realität wird es immer besser sein, diese Haltung einzunehmen, als einen blinden Positivismus, der alles dem Schicksal überlässt. Werfen wir daher einen Blick auf einige Schlüssel, die dabei wichtig sind.

Vorpraktisches Denken

Vorpraktisches Denken ist eine kognitive Strategie, bei der wir uns mögliche Ergebnisse eines zukünftigen Szenarios vorstellen oder darüber nachdenken. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir uns bei einem potentziell angstvollem Ereignis vorstellen können, welche Folgen es haben könnte, wenn wir diesem Ereignis ausgesetzt sind. Wir denken dabei an positive, neutrale und negative Auswirkungen.

Sobald wir diese möglichen negativen Szenarien eingegrenzt haben, überlegen wir, wie wir uns in den ungünstigsten Situationen verhalten würden. Der defensive Pessimist rechnet mit dem Schlimmsten, um sich dem vermeintlichen Ungemach zu stellen.

Angstkontrolle

Der praktische Pessimist weiß, wie er das Beste aus der Angst machen kann, indem er die psychophysiologische Aktivierung nutzt, die sie mit sich bringt. Er fühlt sich motiviert, nimmt eine proaktive Haltung ein und sucht nach Lösungen für mögliche Probleme, anstatt sich von ihnen blockieren zu lassen – selbst wenn sie noch nicht eingetreten sind. Wie die Psychologin Julie Norem in einer klassischen Studie aus dem Jahr 1983 erklärt, wirkt die Angst in diesen Fällen als Motivationsmechanismus.

Denn obwohl wir das manchmal vergessen, soll die adaptive Angst unser Wohlbefinden fördern, indem wir uns den Risiken und Bedrohungen in unserer Umgebung stellen. Deshalb ist es wichtig zu wissen, wie wir die Emotionen und Empfindungen, die dieser Zustand in uns auslöst, regulieren können. Das Ziel ist, die Angst zu beherrschen und sie zu unseren Gunsten zu nutzen, damit sie uns nicht beherrscht.

Ziele und Zwecke klären

Der defensive Pessimismus ist im Grunde eine kognitive Strategie, bei der sich Menschen Hindernisse für den eigenen Erfolg ausmalen, um dagegen vorgehen zu können. Dadurch verbessern sie nicht nur ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstbild, sondern auch ihre Leistungsbereitschaft.

So können wir einen weiteren entscheidenden Aspekt dieses mentalen Ansatzes verstehen. Du kannst dir angesichts eines angstauslösenden Ereignisses das Schlimmste ausmalen, aber dir ist immer klar, was du erreichen willst. Es stimmt zum Beispiel, dass es dir Angst macht, einen Vortrag zu halten. Du denkst, du könntest dich lächerlich machen. Aber du lässt dich von deiner Angst nicht blockieren, denn du weißt, was du willst: das Publikum überraschen.

Zum Schluss erinnern wir daran, dass negative Gedanken oder Erwartungen keineswegs krankhaft sind. Es ist unser Verstand, der uns anspornt, uns entsprechend vorzubereiten, proaktiv zu handeln und nicht aufzugeben. Ängste sollten uns nicht blockieren, sie laden uns ein, sie zu überwinden.


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  • Norem, Julie & Cantor, Nancy. (1986). Defensive Pessimism. Harnessing Anxiety as Motivation. Journal of personality and social psychology. 51. 1208-17. 10.1037/0022-3514.51.6.1208.
  • Norem, Julie K., and Shannon Smith, ‘Defensive Pessimism: Positive Past, Anxious Present, and Pessimistic Future’, in Lawrence J. Sanna, and Edward C. Chang (eds), Judgments Over Time: The Interplay of Thoughts, Feelings, and Behaviors (New York, 2006; online edn, Oxford Academic, 22 Mar. 2012), https://doi.org/10.1093/acprof:oso/9780195177664.003.0003, accessed 24 Oct. 2022.

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