Studie: Fast niemand liest, was er in sozialen Netzen teilt

In unserer von Unmittelbarkeit geprägten Gesellschaft werden wir von kognitiver Ungeduld beherrscht. Deshalb lesen viele bestenfalls die Schlagzeilen, bevor sie Inhalte in sozialen Netzwerken teilen.
Studie: Fast niemand liest, was er in sozialen Netzen teilt
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 31. Dezember 2022

Es wird immer wieder behauptet, dass wir im Zeitalter der Klischees und Sensationsnachrichten leben, die wir fast zwanghaft konsumieren. Das ist jedoch nicht ganz richtig. Denn die Inhalte, die wir in sozialen Netzen teilen, lesen wir nur selten. Diese einfache Tatsache, so überraschend sie auch sein mag, sagt viel über uns aus.

“Teilen” ist ein Wort, das mit positiven Gefühlen und Absichten geladen ist. Es bedeutet, etwas gemeinsam zu genießen und anderen etwas zu geben, um einen gegenseitigen Nutzen zu erzielen. Im digitalen Universum kann der Akt des Teilens jedoch wie der Apfel sein, den die böse Königin Grimhilde Schneewittchen gab. Das heißt, ein vergiftetes Geschenk.

Denn was wir von Dritten bekommen, ist nicht immer eine nützliche Information, im Gegenteil: Oft sind geteilte Inhalte nicht wahr und wenig respektvoll. Viele Menschen drücken den Knopf aus reiner Trägheit und auch wegen einer Reihe unbewusster Bedürfnisse, die wir jetzt analysieren werden. Eine Studie der Universität Columbia verrät, dass sechs von zehn Menschen nicht lesen, was sie mit anderen teilen.

Wir teilen Informationen, weil wir uns dadurch klüger und besser mit den Geschehnissen in der Welt verbunden fühlen.

Mann surft in sozialen Netzen
Das Drücken des Share-Buttons in sozialen Netzen ist oft ein unbewusster Impuls.

Warum liest kaum jemand, was er in sozialen Netzen teilt?

Wie oft hast du schon falsche Informationen erhalten, die deine Kontakte über soziale Netzwerke oder WhatsApp an mit dir geteilt haben? Und wie oft hast du selbst Links oder Artikel geteilt, die du nicht gelesen hast? Die Tendenz, massenhaft ungeprüfte Daten zu versenden, ist der größte Virus unserer Gegenwart.

Ein Beispiel dafür war das Jahr 2018. Die Science Post veröffentlichte eine Nachricht mit der folgenden Schlagzeile: 70 Prozent der Facebook-Nutzer lesen nur die Titel wissenschaftlicher Artikel, bevor sie sie kommentieren. Nun, dieser Artikel wurde tausende Male geteilt. Kaum jemand öffnete den Link, um zu entdecken, dass es sich bei dem Text um einfaches Lore ipsum handelte, also um einen völlig zusammenhanglosen und bedeutungslosen Typografie-Text.

Kaum jemand liest, was er in sozialen Netzen teilt, denn in dieser von Unmittelbarkeit geprägten Gesellschaft werden wir von kognitiver Ungeduld beherrscht. Wir lassen uns von der Wirkung leiten, die eine Schlagzeile auslösen kann, auch wenn dadurch völlig unbegründete Tatsachen viral werden. Eine sehr aktuelle Studie liefert uns jedoch mehr Informationen in dieser Hinsicht. Hinter diesem Verhalten stehen tiefere Bedürfnisse.

Nachrichten zu teilen, ist einfacher und schneller als sie zu lesen.

Subjektives Wissen und der ewige Dunning-Kruger-Effekt

Die Universität von Texas erklärt in einer Forschungsstudie, dass das Teilen von Informationen die Wahrnehmung von Wissen erhöht. Es ist egal, ob man sich mit Quantenphysik oder Mikrobiologie überhaupt nicht auskennt. Das Teilen eines Artikels zu diesen Themen steigert unter anderem die Selbstwahrnehmung, einen bestimmten Inhalt zu beherrschen.

So ist das Teilen eines Inhalts in Social Media oder in einer WhatsApp-Gruppe fast wie ein Weckruf. Es ist, als würden wir anderen erzählen, dass wir ein Wissen haben, das wir in Wirklichkeit gar nicht haben. Wieder einmal verfallen wir in die ewige Voreingenommenheit des Dunning-Kruger-Effekts.

Das heißt, die einfache Tatsache, dass bestimmte Nachrichten, Artikel oder spezifische Daten gesendet und veröffentlicht werden, führt dazu, dass ein Teil der Bevölkerung seine Fähigkeiten und Fertigkeiten überschätzt. Die Folge: Wenn wir uns beispielsweise bei Twitter einloggen, stellen wir plötzlich fest, dass die meisten Menschen Experten für Kriegskonflikte, Wirtschaftskrisen und Virusinfektionen sind.

Es bleibt keine Zeit zum Lesen, teilen ist besser

Wir leben in einer Umgebung, die uns drängt, mitreißt und verlangt, dass wir zu einer Aufgabe übergehen, ohne die vorherige zu beenden. Unmittelbarkeit ist die Norm und die zunehmende Unfähigkeit, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren, ist die Folge. Es stimmt, dass wir in unserem täglichen Leben viele Informationen und endlose Benachrichtigungen erhalten; aber anstatt zu kontrollieren und dem, was wir erhalten, Grenzen zu setzen, lassen wir uns davon mitreißen.

Wir sind kognitiv ungeduldig geworden, Wesen mit einer stark verarmten Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten. Wir haben nicht nur keine Zeit, wir haben auch keine Lust dazu. Es ist normal, sich von dem Dopaminschub mitreißen zu lassen, den eine sensationelle Schlagzeile auslöst. Es bleibt keine Zeit zum Lesen, denn Teilen macht mehr Spaß.

Außerdem führt das Teilen zu Interaktion und auch zu Kontroversen. Wir erhalten sofort ein Like und eine Reihe von unterhaltsamen Nachrichten. All das ist für viele Menschen eine größere Bereicherung als das Lesen selbst. Für Letzteres gibt es keine Motivation, denn es erfordert Zeit, Nachdenklichkeit und kritisches Denken.

Viele der Nachrichten, die viral gehen, werden gar nicht gelesen.

Frau teilt Inhalt in sozialen Netzen
Alle Informationen in der digitalen Welt müssen analysiert und gegenübergestellt werden, bevor sie geteilt werden.

Informationen sollen nützlich sein

Wir sind zu emotionalen Konsumenten von Inhalten geworden. Wir geben Likes und teilen nur Informationen, die ein Gefühl, eine Emotion auslösen. Je kürzer, desto besser. Deshalb richtet sich unsere Aufmerksamkeit fast immer auf Schlagzeilen. Die Mainstream-Medien wissen das und zögern nicht, reißerische Titel zu präsentieren.

Eines muss uns jedoch klar sein. Informationen sollten bereichern und nähren, nicht vergiften. Wir sollten den Kreislauf stoppen und den radioaktiven Apfel mit Falschinformationen nicht weitergeben. Denn wir alle haben uns schon einmal von diesem Impuls mitreißen lassen.

Wenn es uns darum geht, in einem Thema aufgeklärter und kompetenter zu erscheinen, können wir das nur durch Lesen erreichen. Das und nichts anderes ist das Heilmittel für alle Übel und Unwissenheit. Wir müssen Inhalte mit kritischem Verstand analysieren. Das ist das beste Gegenmittel in einer digitalen Welt, in der es nur allzu leicht ist, giftige Nachrichten zu erhalten.


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