Sexualstraftäter: Welchen Einfluss haben konflikthafte Familienstrukturen?
Sexualstraftäter sind keine homogene Gruppe. Zwar gibt es bestimmte Muster, die sich wiederholen, doch sowohl die kriminellen Handlungen als auch die Persönlichkeitsmerkmale sind unterschiedlich. Häufig sind jedoch problematische Familienverhältnisse zu beobachten, deshalb sind familientherapeutische Maßnahmen in der Prävention entscheidend.
Die Familie prägt frühe Erfahrungen und ist maßgeblich an der Persönlichkeitsbildung beteiligt. Der bekannte Familienpsychologe Salvador Minuchin¹ weist darauf hin, dass die Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern und die Familiendynamik die Art und Weise, wie sich das Kind in der Gesellschaft entwickelt, in hohem Maße bestimmt.
Welche Familienstrukturen wirken sich negativ aus? Gibt es ein typisches psychologisches Profil der Kernfamilie eines Sexualstraftäters?
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Sexualstraftäter: Familienstruktur und -dynamik
Wenn wir über Menschen mit einer Psychopathologie sprechen, konzentrieren wir uns in der Regel auf ihre Eigenschaften, Probleme und Abweichungen. Eine systemische Perspektive macht jedoch deutlich, dass es sich um die sichtbaren Ergebnisse eines dysfunktionalen Systems handelt.
Aus dieser Perspektive müssen wir bei der Analyse oder Interaktion mit Sexualstraftätern den Kontext, das Umfeld, die Beziehungen und den Einfluss dieser Faktoren auf das Verhalten dieser Person berücksichtigen. In diesem Sinne spielt die Familienstruktur des Sexualstraftäters eine entscheidende Rolle.
Welche Aspekte des Familiensystems sind bestimmend? Ein in der Fachzeitschrift Ajayu veröffentlichter Artikel hebt folgende Faktoren hervor:
- Allianzen und Koalitionen: Das sind Zusammenschlüsse zwischen zwei oder mehr Familienmitgliedern, mit der Absicht, einem anderen zu schaden.
- Hierarchische Organisation: Hier geht es um die verschiedenen Ebenen der Autorität der einzelnen Familienmitglieder.
- Loslösung: Die Fähigkeit, sich emotional von den Eltern zu lösen und frei zu handeln, ohne ihnen gefallen oder Rechenschaft ablegen zu müssen.
- Beziehungsdreiecke: In einer dyadischen Bindung wird eine dritte Partei einbezogen, um einen zugrunde liegenden Konflikt zu überlagern oder zu verbergen. Zum Beispiel nutzt die Mutter das Kind als Verbündeten gegen den Vater.
- Rollen und Funktionen der einzelnen Mitglieder: Jede Person hat in der Familie eine Rolle, die zwar flexibel, jedoch klar und deutlich definiert ist. Zum Beispiel: Eltern kümmern sich um die Kinder, Kinder respektieren die Eltern oder Geschwister behandeln sich gegenseitig mit Zuneigung.
- Grenzen: Jede Person hat ihre eigene Individualität, aber es gibt ein Gleichgewicht, das Interaktion ermöglicht, ohne die eigene Rolle aufzugeben. Wenn die Grenzen verwischt sind, kommt es zur Verschmelzung. Sind sie zu starr, ist keine gesunde Bindung innerhalb der Familie möglich.
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Charakteristische Familienstrukturen eines Sexualstraftäters
Wiederholte Sexualstraftäter weisen häufig eine schädliche Bindung zu ihren Eltern auf und sind deshalb für Rückfälle anfälliger. Das Fehlen einer sicheren, gesunden Bindung zu den Eltern sowie bestimmte Familiendynamiken haben also einen starken Einfluss.
Verschiedene Studien – unter anderem eine in der Fachzeitschrift International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology veröffentlichte Forschungsarbeit – machen deutlich, dass Sexualstraftäter vielfach aus maladaptiven oder dysfunktionalen Familien kommen. Oft wurden ihre Mütter in ihrer Kindheit körperlich missbraucht, die Väter sind häufig alkohol- oder drogenabhängig.
Andererseits deuten die Untersuchungen auch darauf hin, dass viele Sexualstraftäter aus Verhältnissen kommen, in denen sie sexuellen Missbrauch erlebt haben. Eine in der Zeitschrift Sex Abuse: Journal of Research and Treatment veröffentlichte Analyse macht deutlich, dass diese Erfahrungen zu Hypermaskulinität (Übertreibung von männlichen Stereotypen), sexueller Zwanghaftigkeit, frauenfeindlichen Fantasien und zu sexuell aggressivem Verhalten führen können.
Häufige Familiendynamiken
Die bereits zitierte Publikation in der Fachzeitschrift Ajayu erwähnt folgende Familiendynamiken, die bei Sexualstraftätern immer wieder zu beobachten sind:
- Dreiecksbeziehungen und Allianzen
- Eine abhängige oder gleichgültige Beziehung zur Mutter; in Ausnahmefällen kann jedoch auch eine gesunde Bindung zur Mutter vorhanden sein.
- Entfremdete Familie mit schwachen Bindungen, gewalttätiges Umfeld und Vernachlässigung
- Gewalttätiger, unverantwortlicher und unmoralischer Vater, gleichgültige oder unterwürfige Mutter
- Meistens dominiert der Vater, es gibt kein Machtgleichgewicht zwischen Männern und Frauen.
- Eine Loslösung ist nicht möglich, weil das Kind aufgrund der erlittenen Misshandlung oder Vernachlässigung Gefühle der Wut und Hilflosigkeit gegenüber den Eltern hegt.
Intervention im Falle eines gewalttätigen familiären Umfelds
Die Forschung macht deutlich, dass eine dysfunktionale Familienstruktur und das Umfeld kriminelles Verhalten begünstigen. Sexualstraftäter wurden in ihrer Kindheit häufig vernachlässigt und haben Gewalt oder Missbrauch erlebt oder selbst erfahren. Deshalb sind präventive Maßnahmen dringend nötig, um familiäre Gewalt und problematische Familienverhältnisse zu verhindern.
Falls konfliktreiche Muster deutlich werden, ist außerdem besondere Aufmerksamkeit wichtig, um potenzielle Sexualstraftäter zu erkennen.
▶ Lese-Tipp
- Familie und Familientherapie: Theorie und Praxis struktureller Familientherapie, Salvador Minuchin, Hermann Hagedorn, Stephanie Vyce, Lambertus 2015
Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.
- Graves, R. B., Openshaw, D. K., Ascione, F. R., & Ericksen, S. L. (1996). Demographic and Parental Characteristics of Youthful Sexual Offenders. International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology, 40(4), 300–317. https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0306624X96404006?journalCode=ijoe
- Johnson, G. M., & Knight, R. A. (2000). Developmental antecedents of sexual coercion in juvenile sexual offenders. Sexual Abuse: A Journal of Research and Treatment, 12, 165-178. https://link.springer.com/article/10.1023/A:1009546308248#citeas
- Minuchin, S. (2018). Families and family therapy. Routledge. https://books.google.co.ve/books/about/Families_and_Family_Therapy.html?id=apGxMgEACAAJ&redir_esc=y
- Pinto, B., & Aramayo, S. (2010). Estructura familiar de agresores sexuales. Revista Electrónica de Psicología “Ajayu, 8(1). https://www.redalyc.org/articulo.oa?id=461545465004
- Sánchez, C. (2003). Perfil del agresor sexual: estudiando las características psicológicas y sociales de los delincuentes sexuales de nuestras prisiones. Anuario de psicología Jurídica. jurídica, 13(1), 27-60. https://dialnet.unirioja.es/servlet/articulo?codigo=892051
- Sauceda, J.M. & Maldonado, J.M. (2003). La familia: su dinámica y tratamiento. Organización Panamericana de la Salud. Washington D.C. https://www.researchgate.net/publication/348923209_LA_FAMILIA_DINAMICA_Y_TRATAMIENTO