Die Polyvagal-Theorie: Paradigmenwechsel in Therapie und Beratung
Viele neue Erkenntnisse benötigen einige Zeit, bis sie allgemein Beachtung finden. Auch in der Medizin und der Psychotherapie haben es neue Sichtweisen oft schwer. Ein solches Beispiel ist die bereits 1995 erstmals formulierte Polyvagal-Theorie. Doch langsam aber sicher erhält sie über die Fachkreise hinaus viel Aufmerksamkeit. Besonders in der Psychotherapie findet sie zunehmend die verdiente Anerkennung.
Die Polyvagal-Theorie wurde von dem US-amerikanischen Psychiater und Neurowissenschaftler Stephen W. Porges entwickelt. Porges ist Universitätswissenschaftler am Kinsey Institute, Indiana University, und Professor für Psychiatrie an der University von Nord Carolina.
In seiner Theorie beschreibt Porges eine neue Sicht auf das Autonome Nervensystem (ANS). Die Polyvagal-Theorie postuliert, dass das ANS ständig unsere Umgebung daraufhin untersucht, ob sie sicher, gefährlich oder sogar lebensbedrohlich erscheint. Dazu verwendet es sowohl Signale aus der Umgebung als auch solche, die aus den inneren Organen an das ANS übermittelt werden. Dieser Vorgang wird Neurozeption genannt. Er läuft weitgehend unbewusst ab.
Je nachdem, zu welcher Einschätzung das Autonome Nervensystem gelangt, werden unterschiedliche neurophysiologische Vorgänge in Gang gesetzt, die unser Überleben in Gefahr sicherstellen sollen.
Diese Sichtweise hat weitreichende Konsequenzen für die psychotherapeutische und beraterische Arbeit.
Das autonome Nervensystem (ANS) in der Polyvagal-Theorie
Das autonome Nervensystem ist jener Teil unseres Nervensystems, der für die unbewussten und unwillkürlichen Funktionen unseres Körpers zuständig ist. Der Name „Autonomes Nervensystem“ rührt daher, dass man lange Zeit dachte, auf diesen Teil hätte man keine Einflussmöglichkeit. Neuere Forschungen zeigen aber, dass dies so nicht stimmt.
Das ANS steuert die Funktion der inneren Organe, wie etwa Atmung, Herzschlag oder Verdauung und Hormonausschüttung und wie wir heute wissen, beeinflusst es zudem unsere emotionale Befindlichkeit und somit unser Verhalten.
Eine neue Sicht auf das Autonome Nervensystem durch die Polyvagal-Theorie
In über vierzigjähriger Forschungsarbeit erkannte Porges, dass der Vagusnerv nicht ein einzelner Nerv ist, sondern tatsächlich aus zwei separaten Ästen besteht, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Daher der Name „Polyvagal-Theorie“ (von griech. „poly“=viel, mehrere). Anatomisch versorgen die beiden Vagus-Äste unterschiedliche Regionen. Der dorsale (hintere) Vagus regelt überwiegend die inneren Organe, die unter dem Zwerchfell liegen: den Magen, Teile des Darms, die Leber und die Nieren. Der ventrale (vordere) Vagus hingegen steuert Bereiche oberhalb des Zwerchfells, insbesondere jene, die wir für soziale Aktivitäten benötigen: Gesicht, Mund, Kehlkopf, Rachen und Mittelohr sowie das Herz.
Die unterschiedlichen Äste des Vagusnervs sind aber auch unterschiedlich aufgebaut. Der ventrale Vagus besitzt zusätzlich eine „Myelinisierung“ genannte, umhüllende Fettschicht. Diese Fettschicht ermöglicht, in Abhängigkeit von der Dicke der Nervenfasern, eine bis zu 100-fach schnellere Informationsübermittlung durch die Nervenfasern.
Und noch etwas Wesentliches stellte Porges heraus: Entgegen der landläufigen Annahme steuert nicht einseitig unser Gehirn das Nervensystem, sondern das Nervensystem gibt auch unserm Gehirn entscheidende Handlungsanweisungen. Körper und Gehirn beeinflussen sich in einem Regelkreislauf also gegenseitig. Ein entscheidender Faktor in diesem Regelkreislauf ist eine Fähigkeit des Nervensystems, die Porges im Rahmen der Polyvagal-Theorie „Neurozeption“ nennt.
Neurozeption
Der Begriff Neurozeption bezeichnet die Fähigkeit des ANS – automatisch und ohne dass wir dies bewusst wahrnehmen – die Umgebung ständig darauf zu überprüfen, ob sie sich sicher, bedrohlich oder gar lebensgefährlich darstellt. Dazu verwendet es Signale, die sowohl über unsere Sinnesorgane aus der Umgebung als auch aus den inneren Organen an das ANS übermittelt werden. Je nachdem, zu welcher autonomen Einschätzung das ANS kommt, aktiviert es einen von drei grundsätzlichen, physiologischen Zuständen:
- Bewertet das ANS die Umgebung als sicher, wird das Social-Engagement-System (SES) aktiviert, das u.a. soziale Interaktion ermöglicht. Hierbei wird der ventrale Vagus aktiv.
- Wird die Umgebung als bedrohlich eingeschätzt, aktiviert das ANS den Kampf- oder Fluchtmodus. Dies ist eine Aufgabe für den Sympathikus.
- Erscheint eine Situation als lebensgefährlich und Kampf/Flucht als nicht möglich, bewirkt das ANS über den dorsalen Vagus eine Erstarrung.
Entwicklungsgeschichtlich sind die zwei Äste des Vagusnervs zu unterschiedlichen Zeiten entstanden. Der dorsale Teil ist weitaus älter als der ventrale. In Gefahrensituationen läuft die Reaktion kaskadenförmig ab. Wenn ein „jüngeres“ Verhalten nicht greift oder gelernte Erfahrungen dagegensprechen, wird auf das „nächstältere“ Verhaltensmuster umgeschaltet.
Konkret heißt das, dass ein Mensch, der sich bedroht fühlt, zuerst versucht durch soziale Interaktion die Gefahr zu bannen. Gelingt dies nicht oder erscheint der Versuch von vornherein aussichtslos, schaltet das System um auf „Kampf oder Flucht“. Ist auch dies nicht möglich, wird in den dritten Modus gewechselt, der Erstarrung oder Erschlaffung hervorruft.
Traumata führen zu falschen Einschätzungen
Dabei kann es vorkommen, dass das ANS zu einer falschen Einschätzung, in den meisten Fällen zu einer falsch-negativen Einschätzung, der Umgebung kommt: Selbst wenn objektiv kein Bedrohung vorhanden ist, kann der Körper völlig anders reagieren und wir beginnen plötzlich zu zittern oder unser Herz fängt an, heftig zu pochen.
Dies ist häufig der Fall, wenn Menschen in der Vergangenheit traumatische Erfahrungen gemacht haben. Das Nervensystem ist in diesen Fällen gewissermaßen zu empfindlich eingestellt. Dies ist vergleichbar mit einem Feuermelder, der bereits dann Alarm gibt, wenn nur die Sonne zum Fenster hereinscheint.
Mittels der Neurozeption beeinflusst unser ANS also maßgeblich unser Verhalten.
Der Zustand des ANS als Wahrnehmungs- und Verhaltensfilter
Je nachdem in welchem Modus sich unser ANS aufgrund der autonomen Einschätzung befindet, wird der gleiche Reiz unterschiedlich interpretiert und führt zu ganz unterschiedlichen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen.
Der Zustand des Autonomen Nervensystems beeinflusst auf diese Weise beispielsweise die Fähigkeit zum Verarbeiten von Informationen, zum Zuhören, in soziale Interaktion treten zu können und generell das gesamte Sozialverhalten. Es hängt also nicht nur von unserem „Wollen“ ab, wie wir uns verhalten und welche Fähigkeiten wir einsetzen, sondern oftmals „können“ wir aufgrund unseres vegetativen Zustandes nicht anders. Das ist eine wichtige Information (nicht nur) für Therapeut*innen.
Diese Tatsache erklärt auch, warum es vielen Menschen so schwerfällt, die Dinge, die sie als richtig erkannt haben, in die Tat umzusetzen. Oder warum es uns häufig geschieht, dass wir in einer Übung oder in einer entspannten Situation als hilfreich erlebte Verhaltensweisen souverän beherrschen – und sie uns unter Stress plötzlich nicht mehr zur Verfügung stehen.
Das Nervensystem verknüpft Informationen aus verschiedensten Hirnbereichen miteinander und mit den Organen. Je größer mittels Neurozeption die Gefahr eingeschätzt wird, desto weniger Gehirnbereiche stehen uns zur Verfügung. Wird der ventrale Vagus in seiner Aktivität reduziert, sind weite Bereiche unseres kognitiven Verstandes nicht mehr zugänglich. Und wenn wir in einen dorsal-vagalen Zustand fallen, regiert ausschließlich das Stammhirn mit seinen eingeprägten Instinkten.
Anzeichen der unterschiedlichen Zustände des ANS
Die nachfolgenden Schaubilder verdeutlichen die typischen Verhaltens- und Erlebensweisen in den jeweiligen autonomen Zuständen. Aus der Sicht der Polyvagal-Theorie erscheinen viele – in der herkömmlichen Sichtweise der Medizin – als krankhaft eingestuften Verhaltensweisen und Symptome plötzlich als nachvollziehbare Stressreaktionen. Diese hatten zum Zeitpunkt ihres Entstehens eine äußerst sinnvolle Funktion. Unter geänderten Rahmenbedingungen können sie aber sehr lebenseinschränkend wirken.
Wenn sich unser Nervensystem sicher fühlt, dominiert der ventrale Vagus unser Verhalten und Erleben.
Anzeichen des ventral-vagalen Zustandes:
Fühlen wir uns bedroht, geraten wir zunehmend in den durch den Sympathikus geregelten „Kampf/Fluchtmodus“. Alle Aufmerksamkeit wird auf die Bedrohung gerichtet und alle Energie für die Mobilisierung bereitgestellt.
Anzeichen des sympatikotonen Zustandes:
Werden wir in einer Situation überwältigt und können weder kämpfen noch fliehen, geraten wir zunehmend in den Zustand der Erstarrung. Alle Energiereserven werden gebündelt für eine letzte Kampf- oder Fluchtaktion, falls sich diese ergeben sollte.
Anzeichen des dorsal-vagalen Zustandes:
Dies ist natürlich kein „digitaler“ Prozess im Sinne von „Ein/Aus“, sondern ein kontinuierliches Pendeln zwischen den unterschiedlichen Zuständen, in Abhängigkeit von der Neurozeption. Allerdings kann dieser Wechsel auch sehr stark innerhalb kürzester Zeit geschehen.
Wechselwirkungen im Autonomen Nervensystem
Im ventral-vagalen Zustand befindet sich unser Nervensystem in Ruhe. Es besteht ein autonomes Gleichgewicht zwischen dem Sympathikus und den dorsalen Vaguspfaden. Die in diesem Zustand frei werdende Energie steht für Gesundheitsförderung wie Zellentgiftung oder Regeneration zur Verfügung.
Eine neurozeptiv wahrgenommene Gefahr schwächt oder neutralisiert die Aktivität des ventralen Vagus und verschiebt das Gleichgewicht. Das Nervensystem optimiert sich auf das Ziel hin, durch Verteidigungsreaktionen wie Kampf/Flucht oder Erstarrung, Gefahren abzuwehren.
Die Koppelung des Systems für soziale Verbundenheit (ventral-vagal) mit den dorsal-vagalen Regulationen der Organe unterhalb des Zwerchfells hingegen schafft optimale Voraussetzungen für Intimität und Paarung. Immobilität bedeutet für Säugetiere erhöhte Verletzlichkeit. Nähe und Kontakt müssen als sicher eingeschätzt werden, damit die für Intimität notwendige „Immobilisierung ohne Angst“ erfolgen kann.
Das Social-Engagement-System (SES)
Das System für soziale Verbundenheit oder Social-Engagement-System (SES) findet sich nur bei Säugetieren. Es ist maßgeblich vom ventralen Vagus gesteuert. Die einzelnen Teile des SES beeinflussen sich dabei wechselseitig. Zum SES gehören neben Herz und Lunge alle Bereiche des menschlichen Körpers, die für soziale Interaktion entscheidend sind. Dies sind u.a. die Gesichtsmuskulatur – besonders der oberen Gesichtshälfte (Augenringmuskel) – der Kehlkopf und die Gehörmuskulatur.
Ist das SES voll ausgereift, erfüllt es zwei wichtige Funktionen. Erstens dient es der weitgehenden Regulation des körperlichen Zustandes, sodass Entwicklung und Heilung gefördert werden. Dies geschieht, indem der ventrale Vagus Stressreaktionen herunterreguliert, etwa durch Dämpfung der Ausschüttung von Stresshormonen oder Beeinflussung des Immunsystems.
Zweitens übermittelt es über die bei Säugetieren vorhandene Gesicht-Herz-Verbindung Informationen über den körperlichen Zustand. Dies geschieht unter anderem über den Gesichtsausdruck, die Stimmmelodie (Prosodie) und die Steuerung der Mittelohrmuskulatur. Letztere ermöglicht es, auf die Frequenz der menschlichen Stimme zu fokussieren.
Wir werden mit einem unreifen Nervensystem geboren
Die menschliche Entwicklung im Mutterleib dauert in der Regel etwa 40 Wochen. Zum Zeitpunkt der 32. Schwangerschaftswoche befindet sich unser Nervensystem noch in einem Zustand, der neurologisch mit dem Entwicklungsstand von Reptilien vergleichbar ist. Zum Zeitpunkt der Geburt, ist unser Nervensystem – und damit auch unser SES – also noch lange nicht ausgereift. Erst nach und nach reift unser Nervensystem innerhalb der ersten Lebensjahre zu seiner vollen Funktionsfähigkeit heran. Wesentlich dafür sind die Umweltreize.
Die Regulation des Nervensystems muss erlernt werden
Sowohl die Fähigkeit zur Regulation unseres Nervensystems als auch die zur sozialen Interaktion sind nicht angeboren. Säuglinge bzw. Kleinkinder müssen dies in den ersten Lebensmonaten und -jahren erst erlernen. Dies geschieht durch Nachahmung der Bezugspersonen, meist der Mutter.
Bei Säugetieren ist die neuronale Regulationsfähigkeit des ANS eng mit der neuronalen Regelung der für das Hören und Sprechen zuständigen Muskulatur gekoppelt (Mittelohr, Rachen, Kehlkopf). Diese sind auch maßgeblich für die Aktivitäten des Social-Engagement-Systems.
Die Regulation, also Beruhigung oder Stimulation des Neugeborenen, geschieht durch eingestimmte Kommunikation und Einfühlen in das Kind. Die Mutter reguliert also das Nervensystem des Kindes mit ihrem eigenen Nervensystem. Sehr anschaulich ist dieser Mechanismus dargestellt in diesem YouTube-Video „Still–Face-Experiment“ des Forschers Edward Tronick.
Das Experiment zeigt eindrücklich, wie sehr Kinder auf soziale Interaktion mit den Bezugspersonen angewiesen sind, um sich selbst regulieren zu können. In diesem Experiment ist zu sehen, wie eine Mutter und ihr Kleinkind miteinander interagieren. Nach einiger Zeit schaut die Mutter kurz weg und wendet sich darauf wieder dem Kind zu, diesmal allerdings mit einem erstarrten Gesichtsausdruck und ohne auf das Kind zu reagieren. Das Kind gerät daraufhin unter massiven Stress, obwohl die „Erstarrung“ der Mutter nur eine Minute anhält.
Die Folgen von Traumata in der frühesten Kindheit
Die Regulation eines anderen Menschen durch das eigene Nervensystem nennt man Co-Regulation. Wie genau diese Co-Regulation geschieht, ist noch nicht abschließend wissenschaftlich geklärt. Es deutet jedoch vieles darauf hin, dass bestimmte Hirnzellen, die sogenannten Spiegelneuronen, eine wichtige Rolle dabei spielen. Spiegelneuronen sind unter anderem dafür verantwortlich, dass wir, wenn wir auf unser Gegenüber eingestimmt sind, dessen Gefühle wahrnehmen können.
Die grundlegende Entwicklung des Nervensystems dauert bis in das vierte Lebensjahr. Kommt es in dieser Lebensphase zu potentiell traumatischen Erfahrungen, etwa zu einer länger andauernden Trennung von den Bezugspersonen oder zu emotionaler Vernachlässigung, kann das SES in seiner Entwicklung nachhaltig gestört werden. Man spricht in diesem Fall von einem Entwicklungs- oder Bindungstrauma. Dies im Gegensatz zum Schocktrauma, das durch ein einzelnes, überwältigendes Erlebnis ausgelöst wird.
Das Gefühl von Sicherheit ist entscheidend
Von unserer biologischen Entwicklung her sind wir „Rudeltiere“. Nur wenn wir – oder genauer gesagt unser Nervensystem – sich sicher genug fühlt, können wir in soziale Interaktion treten. Gleichzeitig vermittelt uns soziale Interaktion ein Gefühl von Sicherheit.
Wie aber können wir unserem Autonomen Nervensystem genügend Sicherheit vermitteln? Dazu gibt es grundsätzlich zwei sich ergänzende Möglichkeiten. Porges bezeichnet diese in der Polyvagal-Theorie als „aktive und passive Pfade“.
Der passive Pfad aktiviert das System für soziale Verbundenheit, ohne eigene Aktivität, allein über Signale aus der Umwelt, die für Sicherheit stehen. Dies sind beispielsweise eine ruhige Umgebung, positive und mitfühlende Interaktionen mit anderen Menschen oder Musik im Frequenzbereich der akustischen Signale für Sicherheit, etwa durch Holzblasinstrumente oder Gesang.
Die aktiven Pfade hingegen verlangen aktives Handeln der jeweiligen Person. Sie stimulieren das System für soziale Verbundenheit beispielsweise über Sprechen, kontrolliertes Atmen oder bestimmte Körperhaltungen. Ob der aktive Pfad aber überhaupt zugänglich ist, setzt voraus, dass dem ANS über den passiven Pfad im Vorfeld bereits ein Mindestmaß an Sicherheit vermittelt wurde.
Um Sicherheit in uns selbst erzeugen zu können, sind wir also existenziell auf soziale Interaktionen – also die Unterstützung durch andere Menschen – angewiesen. Diese Unterstützung muss erstaunlicherweise nicht aktuell geschehen. Auch die Erinnerung an unterstützende Momente in der Vergangenheit kann große Wirkung zeigen. Dies erklärt die grundlegende Bedeutung der sicheren Bindungserfahrungen für das subjektive Erleben von Sicherheit.
Das Safe and Sound Protocoll (SSP) – eine effektive klinische Anwendung der Polyvagal-Theorie
Die neuronale Regulationsfähigkeit des ANS ist, wie oben bereits erwähnt, eng mit der neuronalen Regelung der für das Hören und Sprechen zuständigen Muskulatur gekoppelt. Da lag es nahe, dieses „Portal“ therapeutisch zu nutzen. Im Jahr 2017 gelang dies Stephen Porges nach intensiver Forschung schließlich. Auf Grundlage der Erkenntnisse aus der Polyvagal-Theorie, entwickelte er mit dem Safe-and-Sound-Protocol (SSP) eine wirksame Methode, die das ANS dabei unterstützen kann, wieder in einen entspannten Zustand zu kommen. Über speziell modulierte Musik werden dem Nervensystem Signale von Sicherheit vermittelt. Gleichzeitig wird die erstarrte Mittelohrmuskulatur gelöst und somit wieder zugänglich für akustische Regulationsmöglichkeiten.
Auswirkungen der Polyvagal-Theorie auf therapeutisches Arbeiten
Die Erkenntnisse aus der Polyvagal-Theorie haben weitreichende Auswirkungen auf Vorgehen und Inhalt einer Psychotherapie. Das betrifft sowohl die Erklärungsmodelle der Entstehung psychischer Störungen und deren Diagnose als auch die Vorbereitung von Therapiesitzung sowie das therapeutische Vorgehen in der Sitzung. In meinen Fortbildungen zur Einbindung der polyvagalen Erkenntnisse in die therapeutische und beraterische Arbeit, erleben die Teilnehmenden oft einen Paradigmenwechsel in Bezug auf ihre Arbeit mit Menschen.
Sicherheit ist die Therapie
Aus dem Blickwinkel der Polyvagal-Theorie ist ein neurozeptiv wahrgenommenes Gefühl der Sicherheit – sowohl auf Seiten der Klient*innen als auch auf Therapeut*innenseite – die wichtigste Voraussetzung für eine gelingende Therapie. Erst wenn das Autonome Nervensystem die Umgebung als sicher wertet, können therapeutische Interventionen ihre volle Wirkung entfalten.
Aus der Polyvagal-Theorie wissen wir, dass das Gefühl von Sicherheit die Domäne des ventralen Vagus ist. Möchte ich, dass meine Klient*innen sich sicher fühlen, muss ich also dafür sorgen, dass auch bei ihnen der ventrale Vagus aktiviert ist. Nach den Regeln der Neurozeption müssen dafür zuallererst die Therapeut*innen im Zustand der ventralen Vagusaktivität sein. Alles, was Therapierenden Sicherheit gibt, hilft auch den Klient*innen, sich sicher zu fühlen. Dann erst können weitere Schritte folgen.
„Die Chemie“ muss stimmen
Ein weiterer wichtiger Punkt ist „die Chemie“ zwischen Klient*innen und Therapeut*innen. Therapeut*innen müssen die Klient*innen mögen. Das heißt nicht, dass man mit allem einverstanden sein muss, was die Klient*innen tun! Aber es muss grundsätzlich Sympathie vorhanden sein. Oder wie die Traumatherapeutin Dami Charf es ausdrückt: „Ich therapiere niemanden, mit dem ich nicht auch gerne eine Tasse Kaffee trinken gehen würde.“ Der Psychiatrieprofessor Daniel Siegel beschreibt das poetisch so: „Therapie ist eine Liebesbeziehung auf Zeit ohne sexuelle Intention.“
Eingestimmte Kommunikation
Auf dieser Haltung im Hintergrund basiert der nächste Schritt. Eine besonders wirkungsvolle Möglichkeit Klient*innen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, ist eingestimmte Kommunikation. Diese Art der Kommunikation wird auch rechtshemisphärische Kommunikation genannt, da hierbei die Fähigkeiten der rechten Gehirnhälfte besonders gefragt sind.
Eingestimmte Kommunikation zeichnet sich durch zugewandte Aufmerksamkeit sowie annehmendes, absichtsloses, bedingungsloses Zuhören aus. Auch dies ist mehr eine Haltung, denn eine Technik. Aussagen wie: „Ich bin ganz bei dir!“, „Du bist im Moment das Wichtigste!“, „Ich unterstütze dich und passe auf, dass alles sicher ist und nichts Schlimmes passiert!“ beschreiben die Grundhaltung der Therapeut*innen.
Hinzu kommt die verbale Kommunikation – das Sprechen. Dieses sollte möglichst mit dem ganzen Körper, mit Mimik, Augenkontakt, der Stimmlage und der Prosodie (Stimmmelodie) geschehen. Auf diese Weise hat das Nervensystem der Klient*innen vielfältige Optionen, Signale für Sicherheit über die visuellen und akustischen Sinneskanälen zu empfangen.
Wenn dies ausreichend gelingt, gelangen auch die Klient*innen mehr und mehr in einen ventral-vagalen Zustand der empfundenen Sicherheit. Mit zunehmender Einstimmung geraten die Gehirne und Nervensysteme von Therapeut*in und Klient*in in Resonanz und beginnen miteinander zu schwingen. Die Therapeut*innen empfinden auf diese Weise die Gefühle der Klient*innen. Klient*innen „fühlen sich gefühlt“, zutiefst verstanden.
Haben sich Therapeut*innen auf diese Weise in die Klient*innen eingeschwungen, können sie über die Regulation ihres eigenen Nervensystems die Klient*innen Co-Regulieren. Aus der Wahrnehmung einer tiefen Verbundenheit heraus können dann die Therapeut*innen eine geeignete Intervention auswählen und in der gleichen Verbundenheit erspüren, ob die Intervention greift oder ob sie Unsicherheit hervorruft.
Ziele einer Therapie
Eine solche Atmosphäre des Miteinanders in tiefer Verbundenheit bietet beste Voraussetzungen für das Erleben von Sicherheit. Ziel einer jeden Therapie ist es, dass die Klient*innen im sicheren Rahmen der Therapie die Gelegenheit erhalten, förderliche Fertigkeiten einzuüben sowie neue, heilsame Erfahrungen zu machen. Erfahrungen, die Menschen im Empfinden von Sicherheit gemacht haben, wirken zukünftig ebenfalls als Hinweisgeber für Sicherheit. So können sowohl passive als auch aktive Pfade zur Selbstregulation etabliert werden.
Viele namhafte Therapeut*innen haben inzwischen die Erkenntnisse der Polyvagal-Theorie zum Nutzen ihrer Kilient*innen in ihre Behandlungskonzepte eingebunden, so etwa Peter Levine, Bessel van der Kolk, Marianne Bentzen, Dami Charf, Ron Kurtz, Gunther Schmidt oder Stephen Gilligan, um nur einige zu nennen. Und vielleicht kann auch dieser Artikel einen bescheidenen Beitrag zur Verbreitung dieses wertvollen Wissens zum Wohle unserer Klient*innen erbringen.