Die Morgendämmerung gehört den Verliebten, den Träumern und den Lesern

Nachtschicht, Überstunden, Familienleben, Verpflichtungen... wo bleibt die Zeit für Kreativität und Glück?
Die Morgendämmerung gehört den Verliebten, den Träumern und den Lesern
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 12. Februar 2022

In den frühen Morgenstunden fliegen unsere Gedanken wie Telegramme auf der Suche nach Empfängern. Es ist die magische Grenze zwischen Tag und Nacht. Die Morgendämmerung gehört den eingefleischten Lesern, melancholischen Träumern, den kreativen Köpfen und jenen Liebenden, die sich zwischen Zärtlichkeiten und Vertraulichkeiten entblößen…

Die Morgendämmerung gehört nicht nur den Schlaflosen und den Nachteulen. Sie bietet uns in Wahrheit eine eindrucksvolle Bühne, die unser Gehirn liebt. Es fühlt sich von äußeren Reizen befreit, fühlt sich ruhig und hat Lust auf Kreativität. Sogar die Biochemie unseres Gehirns folgt Mechanismen, die sich von denen des Tages unterscheiden.

„Der Morgen ist die Stunde des Erwachens, die bedeutungsvollste Zeit des Tages, in der wir am wenigsten schlafbedürftig sind, in der zumindest eine Stunde lang ein Teil von uns wach ist, der alle übrige Tages- und Nachtzeit schlummert.”

Henry David Thoreau (Walden)

Wir wissen, dass der zirkadiane Rhythmus unseren unsere biologische Uhr bestimmt. Die Zirbeldrüse, die durch Licht stimuliert oder durch Dunkelheit gehemmt wird, löst die Produktion von Melatonin aus, um unseren Schlaf-Wach-Rhythmus zu steuern. Diese Prozesse sind bekannt, doch der zirkadiane Rhythmus ist auch an anderen höchst interessanten Mechanismen beteiligt.

Viele Menschen legen sich ins Bett, finden jedoch keinen Schlaf. Anstatt sich in die Welt der Träume zu begeben, aktiviert sich ihr Geist fast so, als ob er wie ein Radar auf die Signale fremder Sterne warten würde. In diesem Augenblick ist die Lektüre besonders reizvoll. Das Buchstabenmeer wird lebendig und real. Genauso ist es mit der Kreativität und der Liebe. In der Morgendämmerung steht die Stadt still und genau dann sind die Emotionen am stärksten.

verliebtes Paar in der Morgendämmerung

Die Zeitpläne des Alltags: Feinde der Kreativität und des Glücks

Wir sind von den spitzen Nadeln des Minuten- und Sekundenzeigers gefangen. Uhren markieren unsere Arbeitszeit, unsere Essenszeit und unsere Freizeit. Diese gesellschaftlich vereinbarten Zeitpläne stimmen jedoch oft nicht mit unseren tatsächlichen Bedürfnissen überein. Nachtschicht, Überstunden, Familienleben, Verpflichtungen… wo bleibt die Zeit für Kreativität und Glück?

“Jeder Tag hat seine Plage, und die Nacht hat ihre Lust.”

Goethe

Neurowissenschaftler wie Paul Kelly, Forscher am Institute of Sleep and Circadian Neuroscience an der Universität Oxford, erklärten, dass sowohl die Arbeitswelt als auch das Bildungswesen die zirkadianen Rhythmen überhaupt nicht respektieren. Ihm zufolge führen all diese Auswirkungen dazu, dass wir “eine müde Gesellschaft” sind. Früh zur Arbeit oder zur Schule zu gehen und sich langen Arbeitszeiten zu unterwerfen, bei denen wir früh morgens losfahren und spät abends nach Hause kommen, ist in jeder Hinsicht entmutigend.

Wir leben in einer Zeit, in der “präsent sein” mehr Wert hat als Effizienz. Die Anwesenheit am Arbeitsplatz oder am Schreibtisch bedeutet nicht, dass die Person in diesem Moment das Beste von sich geben kann. Die kumulative Müdigkeit und der Stress dieser respektlosen Zeitpläne ersticken das Potenzial unseres Gehirns vollständig. Nach und nach versinken wir in einer emotionalen Entropie, bis wir in eine traurige Lethargie des Unglücklichseins fallen.

die Macht der Morgendämmerung

Die Morgendämmerung, die Heimat der Träumer

Die Morgendämmerung ist die Heimat der Träumer, jene Zeit, in der die Sterne miteinander flüstern und gehört werden wollen. Eingebettet in die unversöhnlichen Zeitpläne, die wir gerade beschrieben haben, haben wir kaum Zeit für diese Momente. Es ist jedoch üblich, dass unser Gehirn am Wochenende eine eigene Ecke für sich beansprucht, ein paar zusätzliche Stunden, um sich zu befreien.

Der Prozess, der unserem Denkorgan diese “Belohnung” ermöglicht, ist faszinierend.

Nachts arbeitet dein Gehirn in einem anderen Tempo

Die Großhirnrinde ist der Bereich, in dem eine Reihe von Regionen konzentriert sind, die für Aufgaben wie Aufmerksamkeit, Planung, Arbeitsgedächtnis und Belohnung zuständig sind.

  • Tagsüber ist dieses Areal sehr aktiv, da regelmäßig Dopamin freigesetzt wird. Wenn jedoch die Dunkelheit unsere Zirbeldrüse umhüllt, verringert sich dieser Vorrat und lädt zum Rückzug ein.
  • Die Großhirnrinde schaltet sozusagen ab oder geht in den “Standby”-Zustand, weil es nicht mehr so viele äußere Reize zu verarbeiten, zu steuern oder zu bewältigen gibt.

Die Nacht und der frühe Morgen sind Momente der subtilen Selbstzufriedenheit für ein Gehirn, das sich auf andere Bereiche konzentrieren will. Dann öffnen sich die Schwellen zu so faszinierenden Phänomenen wie Vorstellungskraft, Emotionen, Introspektion oder Reflexion.

in der Morgendämmerung

In der Morgendämmerung dominiert eine andere Art von Energie

Du hast das sicher selbst schon erlebt. Du gehst mit einem Problem ins Bett, für das du keine Lösung findest. Doch plötzlich wachst du im Morgengrauen auf. Deine Gedanken sind so klar, wie die Oberfläche eines Spiegels. 

  • Die ersten Antworten kommen. Die Inspiration blüht auf, die Emotionen werden geschärft, unsere Fähigkeit zu fühlen, Ideen zu verbinden oder Bilder zu visualisieren, während wir in die Lektüre vertieft sind, wird weiter verstärkt.
  • Es ist keine Magie und keine übernatürliche Fähigkeit. Es ist der Motor unserer Neurochemie, der die Nacht als die perfekte Zeit betrachtet, um all seine Energie und Ressourcen auf das Gehirn selbst zu konzentrieren.

Der Geist leert sich und die Gedanken fließen in einem anderen Tempo, es gibt eine größere Verbundenheit. Wir sind zu Aktivitäten befähigt, die tagsüber nicht immer möglich sind.

Es ist jedoch klar, dass wir aufgrund unserer Zeitpläne nicht immer diese Momente genießen können, die unseren Schlaf verzehren. Es schadet jedoch nie, sich an der subtilen und schmeichelhaften Abgeschiedenheit zu erfreuen, die uns die Nächte und die frühen Morgenstunden bieten, in denen nur der Mond oder die zaghafte aufgehende Sonne Zeugen unseres bescheidenen Vergnügungens sind: Träume, Lektüre, Liebe…

Bilder mit freundlicher Genehmigung von Isabelle Arsenaut


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.