Die Diktatur der "Happykratie" - bitte lasst mir einen schlechten Tag!

Der Wunsch, glücklich zu sein, lässt sich nur schwer mit der Forderung, glücklich zu sein, vereinbaren. Heute sprechen wir über die Diktatur der "Happykratie".
Die Diktatur der "Happykratie" - bitte lasst mir einen schlechten Tag!

Letzte Aktualisierung: 19. Oktober 2020

In den 1990er Jahren knüpfte der US-amerikanische Psychologe Martin A. Seligman an den 1954 von Abraham Maslow geprägten Begriff der Positiven Psychologie an. Selig definierte seine Arbeit als wissenschaftliche Studie, die das Leben lebenswert mache. Seit diesem Zeitpunkt werden wir von Lebenslehrern, Motivations-Rednern und in Selbsthilfe-Büchern quasi zum Glücklichsein “gezwungen”. Der passende Begriff für diese “Diktatur” des Glücklichseins ist Happykratie. Heute werden wir über die psychologischen Auswirkungen sprechen, wenn uns das Glücklichsein praktisch aufgezwungen wird.

Was ist so falsch daran, einen schlechten Tag zu haben? Wenn ich von Zeit zu Zeit schlecht gelaunt bin – heißt das dann, dass ich krank bin? Und wenn ich mich aufrege, dass sich die Dinge nicht so entwickeln, wie ich es mir gedacht hatte – brauche ich dann professionelle Hilfe, um mein Leben in den Griff zu kriegen? Die Antwort auf alle diese Fragen ist ein klares “Nein”.

Wenn man normale Emotionen als krankhaft auslegt, führt das eher zu einer Epidemie des Unglücklichseins. Ironischerweise verursacht das Gefühl, mit dem eigenen Glücksempfinden nicht an die konventionelle Definition von Glück heranzureichen, sogar noch zu einem schlechteren Gefühl.

Was ist Happykratie?

Was ist Glücklichsein? Ist die Bedeutung auf der ganzen Welt gleich? Kann dir jemand beibringen, glücklich zu sein? Oder kann dir jemand Werkzeuge an die Hand geben, damit du glücklich wirst? Die Industrie der Positiven Psychologie beantwortet beides mit “Ja”. Aber wenn das richtig wäre, nähme die Häufigkeit depressiver Störungen und Selbstmorde nicht so rasant zu.

Die Botschaft der Happykratie lautet, dass es deine eigene Schuld ist, wenn du nicht glücklich bist. Dafür ist deine Denkweise verantwortlich und dein Unvermögen, mit unterschiedlichen Situationen zurechtzukommen. Dazu kommt, dass du wohl nicht mit negativen Gefühlen umgehen kannst.

Schließlich gibt es ja heutzutage eine ganze Industrie, die dir auf Knopfdruck zu deinem Glück verhilft. Lebenslehrer, Selbsthilfebücher oder einen Aufkleber für deinen Badezimmerspiegel. Der erinnert dich beim Zähneputzen daran, dass du dir ein Lächeln auf die Lippen zaubern sollst… Inzwischen ist ein regelrechtes Geschäft mit dem Glücklichsein entstanden.

Womöglich lässt sich die Verpflichtung zum Glücklichsein auf die James Lange-Emotionstheorie zurückführen. Der Physiologe W. James und der Philosoph C.G. Lange gingen trotz kritischer Gegenstimmen davon aus, dass Emotionen durch körperliche Veränderungen z.B. durch bestimmte Gesichtsausdrücke entstehen – nach dem Motto “Ich bin traurig, weil ich weine” anstelle von “Ich weine, weil ich traurig bin.”

Smiley

Also wenn sich bei mir die Welt gerade in die reinste Hölle verwandelt, muss ich dann einfach nur lächeln, damit ich mich glücklich fühle? Oder wenn ich gerade eine schwierige Phase durchlebe, macht dann die Glücksbotschaft auf meinem Frühstücksbecher alles wieder besser?

Es kommt einem lächerlich vor – aber die Anzahl der Leute, die diese Sache mit den Glücksbotschaften abkaufen, ist schwindelerregend hoch. Das Problem dabei ist, dass “positives” Denken oft sehr negative Folgen hat. Zum Beispiel wird ein Gefühl von Unbehagen, egal wie klein es auch sein mag, in keinster Weise geduldet.

Erzwungenes Glücklichsein – was sind die Konsequenzen?

Wie wir bereits sagten, sind Menschen heutzutage ziemlich intolerant, was Gefühle des Unbehagens angeht – ihren eigenen und denen ihres Umfelds gegenüber. Wir wollen uns nicht traurig fühlen – sonst kommen wir uns schwach vor.

Wie oft hast du zu einer weinenden Person gesagt oder es andere sagen hören: “Jetzt wein doch nicht!” Und wie oft hast du selbst gesagt: “Ich will jetzt nicht weinen”, wo es dir dein Körper doch dringend empfohlen hat? Emotionen sind adaptiv, das heißt, sie sind unmittelbare emotionale innere Antworten auf Situationen, in denen wir uns gerade befinden. Sie dienen also einem Zweck. Weinen ist manchmal also wirklich notwendig und gesund.

Wenn du versuchst, deine Emotionen zu unterdrücken, fühlst du dich womöglich schlechter als zu Beginn. Daraus können sich auch ernsthafte emotionale Störungen entwickeln. So könnten die Folgen zum Beispiel aussehen:

Schuldgefühle

Du empfindest Schuldgefühle und fühlst dich zu einem unterschiedlichen Grad dem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt. Du stehst unter Druck, weil dich die Happykratie dazu zwingt, dass mit dir jetzt alles in Ordnung sein muss. Denn das Leben ist prima und du wirfst es mit deiner Heulerei weg. Und du fühlst dich selbst schuldig, weil du dich gerade schlecht fühlst. Und weil du zudem nicht gleich etwas dagegen unternimmst, um dich besser zu fühlen.

Wenn du dich dann womöglich eine ganze Woche traurig fühlst, könnte das für die Gesellschaft zu viel sein. Mit deinem Gefühlshaushalt stimmt wohl etwas nicht. Du übertreibst es und ziehst die Dinge übertrieben in die Länge. Manche Leute könnten auch glauben, dass du deine depressive Verstimmung genießt. Die Happykratie setzt dein Empathievermögen herunter. Man schiebt den Betroffenen für ihr Unglücklichsein den schwarzen Peter zu. Gibt es etwas Unmenschlicheres?

Happykratie oder die Diktatur des Glücks

Dies wiederum führt eventuell zu:

Einsamkeit und mangelnde Unterstützung durch die Gesellschaft

Hier kann es ausnahmsweise dazu kommen, dass die negativen Dinge, von denen du vermutest, dass andere sie von dir glauben, tatsächlich wahr sind. Dir kommt es so vor, als ob dein Umfeld nicht in der Lage ist, deinen emotionalen Zustand zu akzeptieren. Und vielleicht können sie das ja wirklich nicht und distanzieren sich von dir. Warum passiert das? Du kannst deine eigene Traurigkeit und dein Unbehagen nicht akzeptieren. Dann weißt du auch nicht, wie du mit diesen Gefühlen bei anderen Leuten umgehen sollst.

Wir sind soziale Wesen. Ein gutes Netzwerk zur gegenseitigen Unterstützung ist der wirkliche Schlüssel, um schwierige Zeiten zu überstehen oder über eine schlechte Erfahrung hinwegzukommen. In diesem Netzwerk fühlst du dich geliebt, bestätigt und akzeptiert. Die Dinge werden kompliziert, wenn du ein solches Netzwerk nicht hast. Deine Probleme erscheinen dir größer und du bist gestresster und angespannter.

Traurige Frau schaut aus dem Fenster - Happykratie

Widerstand gegen die Happykratie – Respekt für deine Gefühle und die anderer Leute

Als Verfasser dieses Artikels halte ich mich persönlich eher für Knecht Ruprecht als den Weihnachtsmann. Für mich gibt es nichts, das echter, aufrichtiger und vernünftiger wäre, als Traurigkeit und Wut zu akzeptieren. Es ist normal, einen schlechten Tag zu haben – egal wie viel Resilienz du sonst an den Tag legst.

Manchmal gibt dir das Leben Zitronen und du hast einfach keine Lust, Zitronenlimonade daraus zu machen. Zum Beispiel in schwierigen Umständen, die dir richtig zu schaffen machen und aus denen du gerade keinen Ausweg siehst.

Wenn du einen schlechten Tag hast und dir alles düster erscheint, bist du deshalb noch lange kein schlechter Mensch. Aber ein echter Mensch. Sei Menschen gegenüber, die immer glücklich sind, lieber vorsichtig, denn endlose Glückszustände existieren nicht. Vielleicht ist ihre Strategie, mit negativen Emotionen zurechtzukommen, sie zu vermeiden. Vermeidung ist allerdings weniger gesund und konstruktiv als negative Emotionen zu durchleben und sie zu akzeptieren.

Eines der schädlichsten Dinge, die du dir selbst und deiner Stimmung antun kannst, ist, dich in einer schwierigen Situation zu einem Lächeln zu zwingen.

Sowohl positive als auch negative Emotionen dienen unterschiedlichen Zwecken. Anders gesagt, sie sind notwendig. Wenn du sie die ganze Zeit über versteckst, wird alles nur schlimmer.

Es macht dich nicht nur menschlicher, deine eigenen Emotionen als auch die der anderen zu respektieren, sie als normal einzustufen und anzuregen, sie auszudrücken. Damit erleichterst du einen gesunden und respektvollen Übergang in Richtung eines positiveren emotionalen Zustands – wo du keinen Verpflichtungen oder Vorhaltungen ausgesetzt bist, auch keinen zeitlichen Zwängen. Denk daran, du bist so viel mehr als nur eine einzelne negative Emotion.


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.