"Die Aussprache": Eine Reflexion über die Neugestaltung einer zerbrochenen Welt

Der oskarisierte Film "Die Aussprache" basiert auf einer wahren Geschichte. Männer in einer abgelegenen Mennonitenkolonie betäuben ihre Frauen und Töchter, um sie nachts zu missbrauchen. Dieser Film lädt zur Reflexion über sexuelle Gewalt ein.
"Die Aussprache": Eine Reflexion über die Neugestaltung einer zerbrochenen Welt
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 24. März 2023

Gewalt gegen Frauen findet überall statt. Wir lesen in der Zeitung anonyme Geschichten des Schreckens, die im kollektiven Unterbewusstsein von Frauen verankert sind. Hinter dem Schweigen verbergen sich oft traumatische Erlebnisse, die kaum in Worte gefasst werden können, denn Angst, Unverständnis und Scham dominieren die Szene. Doch es ist wichig, über das Leid zu sprechen, den Opfern eine Stimme zu verleihen und sie aus ihrer Einsamkeit zu befreien.  Die Aussprache (Originaltitel: Women talking)ein Film unter der Regie von Sarah Polley, hat einen Oscar für das beste adaptierte Drehbuch erhalten und lädt uns dazu ein, das Bewusstsein über sexuelle Gewalt gegen Frauen zu schärfen.

“Wir sind keine Mitglieder, wir sind Waren. Wenn unsere Männer uns ausgelaugt haben, so dass wir 60 Jahre alt aussehen, obwohl wir 30 sind, und unsere Gebärmütter buchstäblich aus unseren Körpern auf unsere makellosen Küchenböden gefallen sind, wenden sie sich an unsere Töchter.”

 Miriam Toews (Die Aussprache)

"Die Aussprache": Eine Reflexion über die Neugestaltung einer zerbrochenen Welt
Obwohl sich Die Aussprache vor einem gewaltvollen Hintergrund entwickelt, strahlt der Film Gelassenheit und Nachdenklichkeit aus.

Die Aussprache, eine wahre Geschichte

Sarah Polleys Film basiert auf dem Buch Die Aussprache¹, in dem die kanadische Autorin Miriam Toews eine Geschichte erzählt, in der sie selbst die Hauptdarstellerin spielt. Wir erhalten einen Einblick in eine mennonitischen Gemeinschaft in Bolivien, deren Traditionen im 16. Jahrhundert verankert sind. Es handelt sich um den trinitarischen Zweig der christlichen Täuferbewegung.

In diesem Film wachen die Frauen dieser Kolonie morgens blutbefleckt auf, nachdem sie betäubt und vergewaltigt worden waren. Die Männer der Gemeinschaft – in den meisten Fällen die eigenen Väter und Brüder – nutzten ein Betäubungsmittel für Rinder, um sich an den Frauen wiederholt zu vergehen. Der Film ist als zeitlose moralische Fabel inszeniert: Es ist schwierig, den historischen Moment zu verorten, was zum Ausdruck bringt, dass Gewalt gegen Frauen eine Konstante in der Geschichte und Gegenwart ist.

“Wir sind Frauen ohne Stimme. Wir sind Frauen außerhalb von Zeit und Ort, sogar ohne die Sprache des Landes, in dem wir leben. Wir sind Mennoniten ohne Heimat.”

Miriam Toew (Die Aussprache)

Wörter gegen Gewalt

Zeitweilig wird den mennonitischen Frauen eingeredet, die Übergriffe wären das Werk des Teufels. Damit sollten ihre Fehler und ihr mangelnder Anstand auf übernatürliche Weise bestraft werden. Doch eines Tages sehen zwei Mädchen ihre Vergewaltiger: Dämonen aus Fleisch und Blut. Sie erstatten eine Anzeige und zwei Männer werden verhaftet. Die anderen Männer machen sich jedoch auf in die Stadt, um die geforderte Kaution zu zahlen und sie zu befreien.

Die Frauen bleiben deshalb einige Tage ohne Männer zurück und haben die Chance, eine Entscheidung zu treffen. Sie denken über ihre Zukunft und über ihre Wünsche nach. Die Frauen machen sich eine Vorstellung davon, in welcher Welt sie gerne leben würden.

Bleiben, gehen oder handeln? Drei Generationen von Frauen sprechen

Die Aussprache wirft viele Fragen auf: Was tun? Mit Gewalt auf die Männer reagieren? Die Gemeinschaft verlassen und die unbekannte, moderne Welt entdecken? Bleiben und Gehorsam zeigen? Nach einer allgemeinen Abstimmung schließen die Frauen Gewalt aus. Deshalb bleiben nur noch zwei Möglichkeiten: Flucht oder Vergebung.

Acht Frauen repräsentieren alle Familien der Gemeinde: Es handelt sich um Persönlichkeiten mit großem Einfluss unterschiedlichen Alters – Mädchen, junge Frauen, eine schwangere Frau und ältere Frauen. Jedes Gesicht spiegelt eine persönliche Perspektive wider.

Ona (Rooney Mara) trägt ein Kind in sich, das wahrscheinlich von einem Verwandten gezeugt wurde. Ihre philosophischen Überlegungen sind jedoch sowohl erhellend als auch herausfordernd. Ihre ältere Schwester Salome (Claire Foy) repräsentiert die Wut und das Bedürfnis nach Rache. Mariche (Jessie Buckley) spricht von der Notwendigkeit der Vergebung, aber auch in ihrem Inneren pocht die ungeheilte Wut.

Die älteren Frauen, Agatha und Kreta, strahlen Weisheit, Pazifismus und sogar einen Sinn für Humor aus. Trotz so vieler latenter und verworrener Gefühle, trotz all der Gewalt, wählen die Frauen den Raum des Dialogs und der Sororität (Empathie zwischen Frauen).

“Alles, was wir Frauen haben, sind unsere Träume, also sind wir natürlich Träumerinnen.”

Mirian Toews (Die Aussprache)

Die Aussprache - Film
Der Film bringt drei Generationen von Frauen zusammen, die mit ihren Überlegungen und ihrer Weisheit über die Zukunft ihrer Gemeinschaft entscheiden.

Trotz allem Optimismus und Hoffnung

Die Aussprache ist eine intelligente Übung, um unsere Welt mit Zuneigung und Gelassenheit neu zu gestalten. Es wäre sehr einfach, Gewalt zu wählen, um das Geschehene zu rächen. Diese weibliche Fabel lässt jedoch keinen Raum für Vergeltung.

Wir haben es mit einer Gruppe von Frauen zu tun, die, obwohl sie weder lesen noch schreiben können, vor Weisheit strotzen. In dieser kleinen Scheune, die angesichts der Gewalt von außen wie eine Blase der Intimität wirkt, durchleben drei Generationen von Frauen ihre Traumata wieder, sprechen über ihre Erfahrungen, Ängste und Gefühle. Es ist eine Übung der Katharsis, bei der trotz allem oft auch Platz für Lachen und Humor ist.

Diese weisen und verletzten Persönlichkeiten wollen eine Entscheidung treffen, um eine bessere Welt für ihre Kinder zu schaffen. Ihre Worte, Meditationen und universellen Fragen verdienen es, gehört zu werden. Denn trotz der vergrabenen Wut und des Schmerzes gibt es in ihren Stimmen nur ein Ziel: eine Welt, die zerbrochen ist, mit Liebe und Mitgefühl wieder aufzubauen. Es gibt Hoffnung…

Literaturempfehlung

  1. Die Aussprache, Miriam Toews, Hoffmann und Campe 2019

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  • Hsieh, CJ., Fifić, M. & Yang, CT. (2020). A new measure of group decision-making efficiency. Cogn. Research, 5(45). https://doi.org/10.1186/s41235-020-00244-3

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