Das Lima-Syndrom

Das Lima-Syndrom
Bernardo Peña Herrera

Geschrieben und geprüft von dem Psychologen Bernardo Peña Herrera.

Letzte Aktualisierung: 14. Februar 2023

Der menschliche Geist bleibt auch im 21. Jahrhundert ein Rätsel. In der Tat gibt es Konditionen wie das Lima-Syndrom, die uns nach wie vor sprachlos machen. Es ist ein so komplexes Phänomen, dass es Experten und Laien gleichermaßen überrascht. Auch heute noch bleibt es im Wesentlichen unverstanden.

Entführer, die sich in ihre Opfer hineinversetzen? Das ist das Lima-Syndrom. Es tritt bei Menschen auf, von denen man annimmt, dass sie wenig Respekt vor und Interesse an menschlichen Leben haben, die am Ende positive Gefühle und Sympathie für ihre Opfer entwickeln. Darüber wollen wir in diesem Artikel sprechen.

Das Lima-Syndrom

Als wir dachten, dass uns der menschliche Geist wohl kaum noch überraschen könnte, wurde das als Lima-Syndrom bekannte Phänomen beschrieben. Dieses Syndrom ist eine komplexe psychologische Situation, die im Kopf eines Entführers auftreten kann. Im Laufe der Zeit baut er eine emotionale Bindung zu seinem Opfer auf.

Paradoxerweise beginnt der Entführer, sich in das Opfer hineinzuversetzen, sich um dessen Bedürfnisse und sein Wohlbefinden zu kümmern. Das Lima-Syndrom kann sich in Verhaltensweisen wie den folgenden manifestieren:

  • Der Entführer vermeidet es, dem Opfer zu schaden.
  • Er gibt dem Opfer gewisse Freiheiten oder lässt es sogar frei.
  • Er sorgt sich um seine körperliche und emotionale Verfassung.
  • Er beginnt Gespräche über ganz unterschiedliche Themen.
  • Der Entführer gibt Persönliches an das Opfer weiter, wie Kindheitsgeschichten, Ziele, Wünsche.
  • Er kann sogar Versprechungen machen à la “Ich werde dich beschützen”  oder “Dir wird nichts passieren”.
  • Der Entführer kann sich zum Opfer hingezogen fühlen.
Frau schaut traurig in die Kamer

Ursachen des Lima-Syndroms

Inzwischen wunderst du dich wahrscheinlich über die Ursachen des Lima-Syndroms. Bevor wir darauf zu sprechen kommen, wollen wir klarstellen, dass ein bestimmtes Syndrom zu haben nicht unbedingt bedeutet, dass man verrückt oder krank wäre. Über den inneren Zustand des Menschen hinaus gibt es bestimmte äußere Bedingungen, die dazu führen können, dass er auf die eine oder andere Weise reagiert.

Um das Lima-Syndrom zu verstehen, müssen wir daher auf die inneren Bedingungen des Entführers und auf den Kontext der Entführung achten. Jede separate Erklärung wäre reduktionistisch. Es würde es daher helfen, die psychobiografischen Voraussetzungen des Entführers sowie die Umstände zu kennen, die ihn zur Entführung motiviert haben:

  • Vielleicht ist der Entführer Teil einer Gruppe, die ihn gezwungen hat, die Entführung zu begehen.
  • Der Entführer ist möglicherweise nicht damit einverstanden, wie die Entführung durchgeführt wird.
  • Vielleicht wurde der Entführer aus extremer Not heraus gezwungen, das Opfer festzuhalten. Dazu zählen möglicherweise Familiendrama, ernste wirtschaftliche Situation und psychische Störung.
  • Es kann sein, dass der Entführer keine kriminelle Laufbahn hat, unerfahren ist oder sich in Menschen hineinversetzen kann und schlicht keine dissoziale Persönlichkeitsstörung hat.
  • Schließlich denkt der Entführer vielleicht, dass er es nicht lebendig aus der Entführung schaffen werde.

Das Paradoxon des Lima-Syndroms

Das Paradoxon des Lima-Syndroms besteht darin, dass sich der Entführer so verhält, als würde er die Freiheit des Opfers nicht einschränken wollen. Überraschenderweise erschafft der Entführer eine Illusion, in der er es ist, der sich um sein Opfer sorgt und sich um es kümmert.

Dabei tut der Entführer alles, was er kann, um die Umstände für das Opfer zu verbessern. Tatsächlich vermeidet er Unannehmlichkeiten und Schaden, soweit er kann. Ist das Opfer krank? Hier die Medizin. Hat es eine Wunde? Er reinigt und verbindet sie. Hat es Hunger? Er bringt ihm das gewünschte Essen. Plötzlich entsteht im Kopf des Entführers eine Situation, in der er zu so etwas wie einem Betreuer des Opfers wird.

Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist erreicht, wenn der Entführer beginnt, liebevolle Gefühle für das Opfer zu hegen. Dann wird er versuchen, es zu umwerben und zu verführen, es dazu zu bringen, ihn zu lieben, ihn zu wollen.

Woher kommt das Lima-Syndrom?

Wir haben nun beschrieben, worin das Lima-Syndrom besteht, aber eine Frage bleibt noch ungeklärt: Woher kommt der Terminus “Lima-Syndrom”? Woher kommt der Begriff? Wie du vielleicht schon ahnst, von einer Entführung in Lima, Peru.

1996 besetzte eine Terroristengruppe die japanische Botschaft in der peruanischen Hauptstadt. Sie haben eine ganze Reihe von Geiseln genommen. Im Laufe der Zeit knüpften die Entführer jedoch enge Verbindungen zu ihnen und ließen sie alle frei – einschließlich derer, mit denen sie eine sehr vorteilhafte Einigung hätten erzielen können.

Frau mit Depression

Schlussfolgerungen zum Lima-Syndrom

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Lima-Syndrom mit einem intrinsischen Zustand des Menschen zusammenhängt, nämlich der Schaffung und Herstellung von Verbindungen zu anderen, und zwar auch unter Bedingungen, die so besonders sind wie die, die bei Entführungen herrschen. Auf der anderen Seite ist die Erforschung dieses Phänomens zu ausufernd, da es unmöglich ist, die Umstände einer Entführung in einem Labor und unter kontrollierten Bedingungen zu reproduzieren.

Was wir wissen, ist, dass das Auftreten oder Ausbleiben dieses Syndroms von verschiedenen Variablen abhängt, sowohl vom Entführer und der Entführung als auch vom Opfer. Schließlich macht dieses Syndrom nichts anderes als uns daran zu erinnern, dass wir reiner Widerspruch und wir weit davon entfernt sind, mit der Realität zu arbeiten. Stattdessen tun wir es mit der Interpretation dessen, was wir wahrnehmen und als Realität verstehen.


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