Das Erste-Weltkriegsdrama "1917": Beklemmung in einer einzigen Kameraeinstellung

Der Kriegsfilm 1917 wurde bei der Oscar-Verleihung 2020 als einer der Top-Anwärter für die Kategorie "Bester Film" gehandelt. Obwohl er die Unterstützung der Kritiker genoss, wurde er "nur" in drei anderen Kategorien ausgezeichnet. In diesem Artikel gehen wir auf einige Punkte der Handlung genauer ein.
Das Erste-Weltkriegsdrama "1917": Beklemmung in einer einzigen Kameraeinstellung
Leah Padalino

Geschrieben und geprüft von der Filmkritikerin Leah Padalino.

Letzte Aktualisierung: 13. Oktober 2022

Der Kriegsfilm “1917” ging als heißer Anwärter auf Bester Film ins Rennen um die Oscars 2020, wurde aber “nur” in drei technischen Kategorien ausgezeichnet. In der Kategorie Bester Film gewann Parasite, der sich zweifellos als Offenbarung herausstellte. Parasite war der Gewinner in der Oscar-Nacht mit vier Academy Awards und schrieb Geschichte als erster nicht-englischsprachiger Film in dieser Kategorie.

Talent kennt weder Sprach- noch Landesgrenzen, was der Film Parasite eindrucksvoll beweist und seinem südkoreanischen Regisseur und Drehbuchautor Bong Joon-ho einen “Oscar-Regen” bescherte. In diesem Artikel besprechen wir jedoch den Kriegsfilm “1917”. Er wurde als Favorit bei der Academy-Awards-Verleihung 2020 gehandelt, konnte dann aber bei den British Academy Film Awards (BAFTA) und bei den Golden Globes unter anderem den Besten Film für sich verbuchen.

Eine irgendwie vergessene Vergangenheit

Es gibt zahllose Kinofilme über den 2. Weltkrieg und sogar über den Vietnamkrieg, aber nicht viele Filme über den 1. Weltkrieg fanden ein derartiges Echo rund um den Erdball. Einer der bekanntesten unter ihnen ist das Anti-Kriegs-Drama Wege zum Ruhm unter der Regie des unvergessenen Stanley Kubrick mit dem jüngst verstorbenen Kirk Douglas in der Hauptrolle.

Der Erste Weltkrieg wirft mehr Fragen auf als der Zweite Weltkrieg und hat nicht so viel filmisches Potenzial wie dieser. Vielleicht liegt es daran, dass es nicht so klar ist, wer im Ersten Weltkrieg eigentlich der Feind war. Vielleicht ist es auch schwierig, den 1. Weltkrieg wegen seiner chaotischen Natur in einem Film abzubilden. Jeder, der an Kriegsfilme denkt, wird zweifellos solche aufzählen, in denen die erklärten Feinde die Nazis sind.

Der britische Regisseur Sam Mendes wurde durch die Geschichten, die ihm sein Großvater als Veteran erzählte, dazu inspiriert, sich in die Schützengräben des 1. Weltkriegs zu wagen. Er wählte eine einfache Handlung und inszenierte diese in überwältigender Weise mit einer einzigen, kontinuierlichen Kamera-Einstellung.

Den richtigen Ton treffen

Einen Witz kann man auf viele verschiedene Arten erzählen und je nachdem, wer ihn erzählt und wie man ihn erzählt, bringt er uns entweder zum Lachen oder er verpufft wirkungslos. Diese Aussage – so einfach sie auch erscheint – lässt sich auf das Kino übertragen und schließlich auch auf die Kunst im Allgemeinen.

Ohne Frage ist die Botschaft wichtig. Wenn die Rahmenhandlung eines Films unsere Fantasie nicht anspricht, sind wir dagegen machtlos. Es kommt wie zuvor bei den Witzen darauf an, wie man die Geschichte erzählt.

Die Rahmenhandlung in “1917” könnte nicht einfacher sein. Zwei gewöhnliche Soldaten der britischen Armee müssen einem Colonel eine dringende Nachricht überbringen, um ein Massaker an 1600 Männern durch den Feind zu verhindern.

Man erweckt etwas so Einfaches wie eine Nachricht zum Leben und gewinnt dadurch das Mitgefühl des Publikums. Die Zuschauer sind mucksmäuschenstill mit zum Zerreißen gespannten Nerven angesichts der Bedrohung, dass die beiden Soldaten in jedem Moment sterben können.

Soldaten im Schützengraben im Kriegsfilm "1917"

Poetisch, aber beklemmend

Einige langjährige Filmgrößen des britischen Kinos wie Colin Firth und Benedict Cumberbatch sind in der Schauspielerriege als Colonel und General vertreten. Dennoch entschied sich Regisseur Sam Mendes, die zwei Soldaten, die dem Colonel die Nachricht als Meldeläufer überbringen, von zwei jungen Schauspielern verkörpern zu lassen, die noch keine Stars sind.

Es ist sicher richtig, dass eine andere Erzählweise dem Regisseur gestattet hätte, Nebenrollen wie den Colonel oder den General noch detaillierter zu zeichnen. Die Entscheidung, sich auf wenige Hauptdarsteller zu stützen, trägt den Zuschauer allerdings mitten in die Handlung hinein.

Die Situation in den Schützengräben ist vielleicht niemals zuvor so schockierend, so beklemmend und gleichzeitig so poetisch dargestellt worden. Das Publikum kann das Entsetzen, die Einsamkeit und die Trostlosigkeit förmlich spüren – dank der perfekten technischen Mittel, die auf der erzählerischen Spannung beruhen. Wie ist das möglich? Mithilfe einer einzigen – wenn auch nur scheinbar kontinuierlichen Kamera-Einstellung.

Der Film 1917 und die kontinuierliche Kamera-Einstellung

Das Rad wurde mit “1917” nicht neu erfunden. Alfred Hitchcock experimentierte 1948 mit der gleichen Scheinbar-ohne-Schnitt-Technik in seinem Spielfilm Cocktail für eine Leiche. Aus jüngeren Jahren stammt die schwarze Komödie Birdman unter der Regie von Alejandro González Iñárritu aus dem Jahr 2014 oder Victoria, die in einer Plansequenz gedrehten Geschichte eines Bankraubs von Regisseur Sebastian Schipper aus dem Jahr 2015.

So vereint der Film “1917” die Möglichkeiten, die eine neue Technologie bietet, mit einer Technik, die man zuvor schon hier und da gesehen hat und erforscht diese gründlich. Durch den erfolgreichen Einsatz dieser Technologie involviert man die Zuschauer vollkommen in eine Handlung, die in “Echtzeit” abläuft.

Sowohl das Schauspiel als auch die technischen Arbeiten verlangen damit nach einer viel größeren Anstrengung. Denn wenn derartige Szenen gedreht werden, muss vorher alles perfekt ausgemessen und bis auf den letzten Millimeter berechnet worden sein. Das betrifft sogar das Wetter.

Die Illusion einer einzigen kontinuierlichen Kamera-Einstellung mit Schnitten im Bereich von wenigen Millimetern – fast nicht wahrnehmbar für uns Zuschauer – erzeugt ein Gefühl der Beklemmung. Wir sind nicht länger passive Beobachter einer Tragödie, sondern werden zu Komplizen. Da die Hauptdarsteller nicht entkommen können, können wir es auch nicht. So wird die Handlung durch den Einsatz von natürlichem Licht, Räumen, Gesichtern und subtilen Spezialeffekten zusätzlich betont.

“1917”: Gefangen im Schützengraben

Das Publikum fühlt sich im Labyrinth der Schützengräben gefangen, versetzt sich empathisch in die Protagonisten hinein und fühlt die Angst, die vor ihren Augen so glasklar präsentiert wird.

Die Musik und die Bilder erzeugen eine Schönheit, die uns frösteln lässt. Dazu ist die Energie der Schlüssel. Die Kamera blickt oder geht nie zurück, sondern hält Schritt mit der Vorwärtsbewegung der Darsteller. Momente der größten Anspannung werden mit Musik unterlegt, was uns zum Teil an Hitchcock erinnert.

Die Vielschichtigkeit eines Films wie “1917” liegt präzise und genau darin, die natürlichen Ressourcen zum eigenen Vorteil auszunutzen – so zum Beispiel natürliches Licht, die Kontrast-Wirkung von Licht und Schatten (Chiaroscuro) und die Unmittelbarkeit, die dadurch erzeugt werden soll. Dabei denken wir auch an ein Team, das es geschafft hat, ein feindlich gestimmtes Szenario voller Schützengräben zu erschaffen, in dem in der damaligen Zeit unzählige junge Menschen gestorben sind. Alle wurden eingezogen, um ihren Dienst zu leisten – in einem Krieg, der wie alle Kriege sowohl sinnlos als auch abscheulich war.

In den Schützengräben des 1. Weltkriegs im Film "1917".

“1917” ist eine cineastische Erfahrung

Das Gefühl einen Film ohne Schnitte anzuschauen – selbst wenn das nur eine Illusion ist – erzeugt beim Zuschauer ein Gefühl der Verunsicherung. Eine Verunsicherung, die auf tragische Art und Weise von einem Schnitt untermauert wird, der wohl der längste, offensichtlichste und mittelbarste ist.

Nachdem eine Hauptfigur erschossen wurde, wird die Leinwand schwarz – ein scheinbar ewig andauerndes Schwarz, das unsere Beklemmung nur noch weiter steigert, statt uns Erleichterung zu bringen. Ist jetzt alles vorbei? Geht die Handlung jetzt normal weiter – wie gewohnt mit vielen Schnitten? Nein, ganz und gar nicht, dieser drastische Einschnitt ist nur ein Punkt, der gesetzt wird, bevor der Erzählfaden wieder aufgenommen wird. Da gibt es noch so viel zu sagen und immer noch weitere bedrückende Szenen zu zeigen.

Der Film wurde in zehn Kategorien nominiert, gewann aber nur drei Oscars für Beste Kamera, Bester Ton und Beste visuelle Effekte. Diese “technischen” Kategorien sind trotzdem immens wichtig. Ohne ein solides Drehbuch funktioniert ein Film nicht. Aber ein Drehbuch allein erweckt einen Film noch nicht zum Leben. Da braucht es viele “Zutaten” – so wie Kostüme, Filmmusik, Schauspielkunst und Fotografie. Ein Film ist ein komplexes “Kunstwerk”, ein aufwändiges Projekt, bei dem alle Elemente wichtig und wesentlich sind.

Unter allen Artikeln, die ich verfasst habe, ist dieser wohl am wenigsten voreingenommen. Aber wie bei jeder Kritik und Kunstform spielt der persönliche Geschmack eine entscheidende Rolle. Ich bin kein Fan von Kriegsfilmen, die sich zu Antikriegs-Filmen entwickeln, aber ich bin ein großer Bewunderer des Regisseurs Sam Mendes und seinem Kameramann und “Bildregisseur” bei “1917”, dem genialen Roger Deakins.

Von Feindseligkeit übermannt

Mendes hat mich mit seinem Film American Beauty begeistert. Ich war wie hypnotisiert von diesem Werk, das mich mitten ins Geschehen trug, obwohl es nicht viele Überraschungen bot. Trotzdem nahm mich der Film gefangen und fasziniert mich bis heute. Mendes schaffte es, mir in American Beauty die Schönheit einer im Wind wirbelnden Plastiktüte zu vermitteln. Auch in “1917” gelingt es ihm, mich mit seinen Bildern zu überwältigen und mir Schönheit in einer ungemein feindseligen Umgebung zu zeigen.

All diese Szenen sollen uns mitteilen, was wir bereits wissen und was uns im Kino bei unzähligen Gelegenheiten wiederholt gezeigt wurde – dass Kriege widersinnig und Menschen seltsam sind, die Natur aber trotzdem “weitermacht”.

Niemals zuvor war es so wichtig, diesen bedrückenden Szenen ausgesetzt zu sein, während gleichzeitig ein Kirschbaum in voller Blüte steht. Der Tod zeigt sich dort, wo die Natur wieder zum Leben erwacht. Menschen richten in einer natürlichen Umgebung, die versucht zu erblühen, nichts als Zerstörung an. Das ist poetisch, läuternd und erhellend.

“1917”: Eine Lektion in Demut

Die Natur ist eine weitere Darstellerin in diesem Film. Sie ist von den Menschen weit entfernt, doch gleichzeitig allgegenwärtig. Der Baum erscheint in “1917” als aussagekräftigstes Symbol. Er wird sowohl am Anfang des Films als auch am Ende gezeigt und schließt somit wahrhaft den Kreis.

Und jenseits all seiner faszinierenden technischen Mittel ist “1917” eine Lektion in Demut. Er stellt eine Hommage an die Menschen dar, die den 1. Weltkrieg überlebten – an diejenigen, die dem Tod ins Auge blickten und ihre Hoffnungen im Schlamm begruben.


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.