Wenn du mir helfen willst, dann greif bitte nicht ein!
Wenn du mir wirklich helfen willst, dann sag nichts, respektiere meinen Freiraum und gönne mir mein Alleinsein. Spare dir Sätze wie “Ich hab’s dir ja gesagt!”, “Du machst immer die gleichen Fehler!” oder “Da hast du keine andere Wahl!” Das macht es nur noch schmerzhafter für mich.
Verstehe endlich, dass der beste Weg, mir zu helfen, manchmal der ist, mir nicht zu helfen. Du kannst mir gerne zeigen, dass du mit mir mitfühlen kannst und du mich verstehst. Aber bitte bleib am Rand des Geschehens – wenn auch nur für heute.
Der U.S.-amerikanische Präsident Theodore Roosevelt sagte einmal: “Bei jeder Entscheidung ist es das Beste, das Richtige zu tun, das Nächstbeste, das Falsche zu tun und das Schlechteste, gar nichts zu tun.” Natürlich spricht er in diesem Zitat als Politiker. In der Politik gibt es immer die Angst vor der Erstarrung. Angst vor dem Wähler, der sich für keine politische Seite entscheidet oder Angst, dass der Verbündete nicht vortreten wird.
Doch Präsident Roosevelt hat sich geirrt. Nichts tun ist in der Tat eine valide dritte Möglichkeit und manchmal sogar die Beste.
Das größte Problem dabei ist, dass wir für gewöhnlich davon ausgehen, dass andere sich nicht um uns kümmern, wenn Hilfestellung ausbleibt oder sie sich passiv verhalten. Wie können wir also verstehen, dass es manchmal besser ist, stillzuhalten, nicht zu Hilfe zu eilen und stattdessen einen Schritt zurückzutreten?
Viele Psychologen sagen, dass uns der Verstand in den komplexesten Zeiten dazu drängt, die einfachsten Antworten zu geben. Wir nehmen dann gedanklich eine Abkürzung oder treffen versuchsweise eine vorläufige Annahme. Das kann am Ende zum Erfolg führen.
Wenn wir also mitbekommen, dass einem unserer Freunde gekündigt wurde oder sich eines unserer Geschwister nicht gut fühlt, gibt es diese innere Stimme, die uns zuflüstert: “Lass sie in Ruhe, gib ihnen Zeit zum Nachdenken und akzeptiere die Situation.”
Manchmal nimmt man Menschen eine wertvolle Entwicklungschance, wenn man ihnen keine Zeit lässt, sich durch eine Situation hindurch zu kämpfen.
Manche Menschen müssen schlichtweg nicht gerettet werden
Es gibt eine volkstümliche Erzählung aus dem Fernen Osten. Sie berichtet von einem Mann, der bei einem Spaziergang im Park den Kokon einer Seidenraupe fand.
Da er sich Sorgen um das kleine Wesen machte und fürchtete, dass es jemand zertreten könne, beschloss er, sich um das Insekt zu kümmern. Er steckte den Kokon in eine Schachtel, um den zukünftigen Schmetterling mit Geduld und Zuwendung zu versorgen.
Als er zu Hause ankam, bemerkte er, dass sich im Kokon bereits ein kleines Loch befand. Der Schmetterling war bereits dabei, sich aus seinem Kokon herauszukämpfen.
Ganz beseelt vom Willen zu helfen, schnappte sich der Mann eine Schere und schnitt den Kokon ein wenig auf, um das Schlüpfen des Insekts zu beschleunigen. Das war gut gemeint gewesen, aber eine gute Absicht führt nicht immer zu einem guten Ergebnis.
Denn was der Mann nicht wusste, war, dass die Natur ihren eigenen Rhythmus hat, eigene Entwicklungsphasen und unantastbare Wahrheiten. Es gibt Prozesse, wo jedes hilfreiche Eingreifen einfach nur schädlich ist.
Der Schmetterling schlüpfte ins Freie, aber seine Flügel waren zu kurz und er konnte nicht fliegen. Die Flügel hätten sich nur dann aus seinem Körper gedrückt, wenn er sich durch die enge Öffnung des Kokons gequetscht hätte. Der Mann konnte nur noch zusehen, wie das kleine Insekt so lange im Kreis krabbelte, bis es sich nicht mehr bewegte und starb.
Manche Menschen müssen also nicht gerettet werden – sie sind gar nicht in Gefahr. Sie müssen ihre Leidensphase durchleben, um wieder erblühen zu können. Dort, in der Abgeschiedenheit des eigenen Kokons, umgeben von ihrer eigenen sanftmütigen Traurigkeit, in den klebrigen Winkeln des Zweifels und der Enttäuschung.
Es gibt Wege, die Menschen alleine gehen müssen, ohne dass sie von Menschen mit wohlmeinenden Absichten “gerettet” werden.
“Eine unnötige Hilfe ist nur eine Hürde für die Entwicklung.”
Maria Montessori
Und woher wissen wir, wann Hilfe nötig ist?
Die Idee hinter dem Zitat von Maria Montessori ist verwandt mit der soziokulturellen Theorie der Zone der proximalen Entwicklung (ZNE), die von Lew Wygotski entwickelt wurde. Diese Theorie reicht weit über den pädagogischen Kontext in unser alltägliches Umfeld und in unsere Beziehungen hinein.
Die Zone der proximalen Entwicklung beschreibt die Differenz zwischen dem aktuellen Entwicklungsstand eines Kindes, bei dem es selbständig Probleme lösen kann und einem potentiellen Entwicklungsstand, wo es Probleme unter der Anleitung anderer lösen kann.
Daraus ergibt sich beispielsweise, dass wir keine Verantwortlichkeiten übernehmen, die nicht die unseren sind. Dabei gilt es, die Punkte herauszufinden, an denen unsere Hilfe einen Lernanreiz darstellen würde und welches Ausmaß unsere Unterstützung annehmen sollte.
“Hilf deinen Mitmenschen, ihre Last zu heben, aber halte dich nicht für verpflichtet, sie zu übernehmen.”
Pythagoras
Wir sind uns dessen bewusst, dass es nicht immer einfach ist zu wissen, wo die Grenzen sind. Und wo “Nichtstun” zulässig und empfehlenswert ist. Es ist schwer, wenn wir uns verantwortlich fühlen, auch wenn die Person, die eine schwere Zeit durchlebt, uns nicht besonders nahesteht.
Dazu kommt, dass unser Gehirn – rein physiologisch betrachtet – keine Urteile fällt, unser Gewissen allerdings schon.
Wenn du mir helfen willst, dann greif bitte nicht ein
Wir sollten uns also über eine Sache im Klaren sein: Es ist nicht immer eine gute Idee, ständig und unbegrenzt Hilfe zu leisten. Das Ergebnis könnte katastrophal ausfallen. Denn die Menschen, die wir unterstützen, könnten eine Passivität entwickeln, egoistisch werden und eine starke Abhängigkeit von uns entwickeln.
Der Schlüssel liegt darin, zu erkennen, in welcher Situation sich eine Person wirklich verletzlich fühlt. Dazu kommt, dass wir ganz genau wissen müssen, was diese Person dann wirklich benötigt.
Manchmal besteht die beste Hilfe darin, zuzuhören oder einfach “da zu sein”, ohne dabei groß Worte zu verlieren. Wir liefern diesem Menschen den Beweis, dass wir für ihn da sind. Vielleicht sind wir die Schulter, an der er sich ausweinen kann, wenn er möchte. Wir respektieren seinen Freiraum und den Wunsch, alleine zu sein, wenn es erforderlich ist.
Im Wesentlichen können wir einen Lichtkegel werfen, der für einen bestimmten und begrenzten, flüchtigen Augenblick den Weg dieser Person erhellt. Dann kann sie ihre Flügel ausbreiten und muss sich nicht mehr im Kreis bewegen.
Wir können allerdings auch gar nichts “tun”. Dann und wann ist das eine Möglichkeit, die genauso valide und hilfreich ist.