Identitätsamnesie in der Liebe: Wenn du vergisst, wer du bist

Du liebst so sehr und so tief, dass du dich in der anderen Person verlierst und alles andere vernachlässigst, auch Familie und Freunde. Kommt dir das bekannt vor?
Identitätsamnesie in der Liebe: Wenn du vergisst, wer du bist
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 10. April 2023

Es gibt affektive Beziehungen, die unterdrücken und zerstörerisch sind. Sie ziehen Betroffene in eine Form von obsessiver Leidenschaft, in der sie vergessen, woher sie kommen und wohin sie gehen. Diese Personen kreisen nur noch um den Partner oder die Partnerin und leben in einem reduzierten Universum, in dem alles andere nebensächlich ist. In vielen Fällen kommt es bei dieser Art von Bindung zu einer “Identitätsamnesie“.

Wir sprechen nicht von einem Gedächtnisverlust oder einer klinischen Realität, die in Diagnosehandbüchern definiert wird. Es handelt sich um einen Zustand, der einer Gehirnwäsche nahekommt, die zu Verwirrung, veränderten Gedankenmustern und einem beeinträchtigten Willen führt.

In manchen Beziehungen hat die geliebte Person absolute Priorität, was so weit gehen kann, dass Familie und Freunde keine Wichtigkeit mehr haben. Es gibt Lieben, die wie schwarze Löcher sind, die jede Faser und jedes Teilchen einer Person verschlingen, ihre Werte auslöschen und sogar ihren Charakter verändern und gefangen nehmen. In diesem Zustand der Trance zu leben, hat ernste Folgen…

Viele denken, dass sie in einer Beziehung niemals ihre Würde verlieren werden. Doch toxische und abhängige Bindungen sind ein weit verbreitetes Phänomen.

Identitätsamnesie in der Liebe: Frau vergisst sich selbst
Der Verlust der eigenen Identität in der Liebe ist ein Phänomen, das in der Anfangsphase einer Beziehung auftritt.

Identitätsamnesie in der Liebe: Was ist das und wie kommt es dazu?

Im Spiel der Liebe gibt es viele Opfer und Täter oder Täterinnen. Viele unterwerfen sich dem Willen des geliebten Menschen, während andere besonders geschickt darin sind, andere zu dominieren. Wir könnten denken, dass diejenigen, die in schmerzhafte und abhängige Beziehungen abdriften, schwache Persönlichkeiten mit wenig Charakter sind.

Die Realität sieht jedoch anders aus: Wir alle sind anfällig dafür, in eine Beziehung zu geraten, die auf Dominanz und emotionaler Abhängigkeit beruht. Es spielt keine Rolle, wie alt du bist oder wie weit du im Leben gekommen bist. Es gibt Lieben, die uns blind machen und die nach und nach unsere Mäßigung und Stärken zugunsten der anderen Person auflösen. Unter solchen Umständen ist es sehr leicht, die eigenen Prioritäten und Würden zu vergessen.

Wir verstehen Identitätsamnesie in der Liebe als ein Phänomen, bei dem das “Ich” dem Willen eines anderen untergeordnet wird. Die Leidenschaft und emotionale Intensität sind so stark, dass nur der geliebte Mensch zählt. Dimensionen wie Arbeit, Familie oder Freundschaften stehen an zweiter Stelle. Außerdem können sie jederzeit zurückgelassen werden, wenn ein Interessenkonflikt auftritt.

Der Partner hat zu jeder Zeit und unter allen Umständen Vorrang. Tatsächlich stellen Betroffene den geliebten Menschen sogar über sich selbst. Nichts ist so wichtig wie diese blendende, alles verzehrende Liebe.

Manchmal können wir uns um der Liebe willen so weit von unserer persönlichen Essenz entfernen, dass wir aufhören, uns selbst zu erkennen.

Wenn du zum “Wir” wirst und dein “Ich” verloren geht

Es gibt Beziehungen, in denen das “Wir” wichtiger ist als das “Ich”. Natürlich sind gemeinsame Räume, Vereinbarungen, Werte und Ziele in einer Beziehung grundlegend. In dem Moment jedoch, in dem Identitäten verwässert werden und individuelle Bedürfnisse keine Rolle spielen, handelt es sich um eine schädliche Beziehung.

Dieses Phänomen wird durch das sogenannte kontingente Selbstwertgefühl erklärt. Eine Studie der Universität Houston zum Beispiel zeigt einen interessanten Punkt auf: Manchmal hängt das Selbstwertgefühl eines Menschen ausschließlich von seiner eigenen emotionalen Beziehung ab. Diese Personen haben nur dann ein positives Selbstbild, wenn der geliebte Mensch dieses bestärkt.

Die Abhängigkeit von dieser externen Bestätigung unterwirft Betroffene und macht sie sehr verletzlich. Wenn das Selbstwertgefühl nicht von dir selbst abhängt und auch nicht von der Vision, die du von deinem sozialen oder beruflichen Leben hast, ist dein psychologisches Gleichgewicht gestört. Du wirst zum Gefangenen einer Person, die dich fest in der Hand hat.

Viele Betroffene haben ein gutes Selbstwertgefühl, bis sie sich leidenschaftlich und zwanghaft verlieben. An diesem Punkt hängt das eigene Glück nur noch von der Beziehung ab, die zum absoluten Mittelpunkt des gesamten Lebens wird. 

Identitätsamnesie und die falsche Illusion von Glück

Eine Studie der Universität von Südwestchina erinnert uns an die Prozesse, die das Gehirn während der romantischen Liebe durchläuft. Wenn du dich verliebst, sind die Regionen, die mit dem Belohnungssystem in Beziehung stehen, sehr aktiv. Die Emotionsregulierung verändert sich dadurch und die Motivation für die Exklusivität mit der geliebten Person steigt.

All diese Mechanismen sind denen sehr ähnlich, die jeder Süchtige erlebt. Das Gehirn denkt nur daran, dem anderen nahe zu sein, der Rest verliert in bestimmten Fällen an Wert und Priorität. Die Identitätsamnesie ist ein weiterer Prozess bei dieser Form der affektiven Abhängigkeit. Betroffene vergessen, wer sie sind, sie konzentrieren sich nur auf die andere Person. Das Gefährlichste ist, dass sie davon ausgehen, dass ihnen diese Lebensweise absolute Glückseligkeit bietet.

Der blind Verliebte muss jedoch allmählich erkennen, dass das Leben in dieser Peripherie (ausgeschlossen von seinem eigenen Sein, von seinen eigenen Werten und seiner Würde) ihn mit einer Leere erfüllt, die die Liebe nicht befriedigt. Denn Menschen sind nicht nur Liebende, sondern auch Freunde, Familie, Berufstätige, Wesen voller Träume und individueller Wünsche. Wenn uns diese letzten Dimensionen fehlen, ist es schwierig, echtes Glück zu finden.

Frau mit Identitätsamnesie
Ein Paar zu sein bedeutet, die Individualität des anderen zu respektieren und zu fördern; zu wissen, dass die andere Person auch in ihren persönlichen Szenarien jenseits der Beziehung wachsen muss.

Was tun, um die eigene Identität nicht zu verlieren?

Unser Gehirn ist darauf programmiert, sich zu verlieben und die Euphorie von Romantik und Leidenschaft in vollen Zügen zu spüren. Wir sind Menschen, die sich miteinander verbinden müssen, um glücklich zu sein. Aber Vorsicht, diese Bindungen sollten keine Fesseln haben, sondern Flügel, die es uns ermöglichen, in alle Richtungen zu wachsen: affektiv, persönlich, beruflich usw.

Im Durchschnitt beginnt die Identitätsamnesie in der Anfangsphase einer Beziehung. Es ist der Moment, in dem eine Person einen Exzess zeigt, um der anderen Person zu gefallen. Sie will gemocht werden, die andere Person glücklich machen und das führt dazu, dass sie ihre Individualität verliert. Fast ohne es zu merken, wird sie in ihrem Versuch, zu gefallen, zum Schatten ihres Partners.

Um eine Co-Abhängigkeit zu vermeiden, in der du zum Schlüsselanhänger deines Partners wirst, solltest du dir bereits in der Anfangsphase der Beziehung bewusst sein, wer du bist und was du willst. Liebe bedeutet nicht, immer gefallen zu müssen. In einer gesunden Liebe geht es darum, zu teilen, Identitäten zu respektieren und das Wachstum des anderen zu fördern. Es geht auch darum, ein “Wir” zu schaffen, das aus einem “Du” und einem “Ich” besteht, die frei und unabhängig bleiben.


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