Evgeny Morozov: Radikale Kritik an der Naivität des "Cyber-Utopismus"
Der Begriff “Cyber-Utopismus” beschreibt die Tendenz, das Internet als Raum für eine demokratische, dezentrale und freiheitliche Gesellschaft zu betrachten. Diese Bewegung hebt in der digitalen Welt Aspekte wie Anonymität, Meinungsfreiheit, Zugang zu Informationen und Kultur hervor. Der belarussische Philosoph und Vordenker Evgeny Morozov kritisierte diese Idee bereits früh und auf sehr radikale Weise. In seinem Buch The Net Delusion¹ (2012) analysierte er den Internettotalitarismus von Tech-Konzernen und autoritären Staaten. In seinen Werken spricht er über die dunklen Seiten des Internets und warnt vor deren Auswirkungen.
Evgeny Morozov beschäftigt sich eingehend mit den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gefahren der Technologie. Er gilt bis heute als einer der brillantesten Internet-Theoretiker. Dieser Philosoph lädt uns alle ein, über die Zukunft der digitalisierten Gesellschaft nachzudenken. Er warnt vor der Naivität, mit der wir der digitalen Utopie begegnen. Die Technologisierung macht unser Leben nicht automatisch besser oder einfacher. Vielmehr kritisiert Morozov, dass es in der digitalen Gesellschaft keine Privatsphäre gibt, Wahlen manipuliert werden, die Gefahr von Datenlecks besteht und Fake News sowie einseitige Propaganda verbreitet werden. Und er ist davon überzeugt, dass wir erst am Anfang stehen und wir mit einer wesentlich stärkeren Kontrolle rechnen müssen.
“Internet-Kritik erschöpft sich im deutschsprachigen Raum meist in Kulturkritik. Man kritisiert, dass Twitter und all diese Erscheinungen unsere Zivilisation zerstören würden. Ich will mich in solchen Kulturpessimismus nicht einreihen. In meinen Augen sollte Technologiekritik vor allem eine Kritik des dahinter stehenden politischen und wirtschaftlichen Systems sein.”
Evgeny Morozov
Evgeny Morozov, der kritische Internet-Theoretiker
Obwohl er ein gefeierter Twitterer ist, ist Morozov wegen seiner kritischen Haltung zum Internet als “Internet-Ketzer” bekannt. Er zählt zu jenen Philosophen, die den “Cyber-Utopismus” scharf kritisieren und vor den Gefahren der virtuellen Welt warnen. Morozov erinnert uns daran, dass die Ultrakonnektivität unser Leben allmählich kolonisiert. Er weist darauf hin, dass Technologiegiganten wie Google, Facebook oder Twitter nicht von Werbung leben, wie viele Menschen glauben. Ihr Geschäft besteht seiner Meinung nach darin, Daten zu sammeln und aus diesen Daten Produkte zu entwickeln, um sie den denselben Nutzern anzubieten. Die User arbeiten also für dieses Konzerne.
Er argumentiert, dass der technologische Triumphalismus ein Nebenprodukt des Endes des Kalten Krieges ist. Wir lassen uns davon überzeugen, dass es keine gültige alternative Gesellschaft oder Kultur gibt. In anderen Worten: Silicon Valley steuert das Verhalten der westlichen Welt.
“Cyber-Utopismus” und Diktaturen
Evgeny Morozov betrachtete die Welt des Internets und der neuen Technologien nicht immer aus einer kritischen Perspektive. Vielmehr begann er, sich für das Thema zu interessieren, da er dachte, durch unermüdlichen Cyber-Aktivismus die Welt verändern zu können. Der berühmte “Arabische Frühling” und die politischen Prozesse in Georgien und der Ukraine inspirierten ihn. Er sah in den Netzwerken eine Chance zur Freiheit.
Schließlich wurde er von der Macht der virtuellen Welt, mehr Gerechtigkeit und Freiheit zu erreichen, enttäuscht. Er erkannte, dass dieser Raum zwar neue Ideen und Perspektiven begünstigte, fand sich jedoch gleichzeitig in einem Minenfeld wieder, in dem autoritäre Propaganda und Lügen Verbreitung finden. Von der “letzten Bastion der freien Meinungsäußerung” wurde das Internet zu einem effektiven Werkzeug der Tyrannei, zumindest an vielen Orten.
Der Grund dafür ist primär, dass die meisten Menschen nicht verstehen, wie die virtuelle Welt funktioniert. Sie nutzen das Internet jeden Tag und nehmen an sozialen Netzwerken teil, aber sie wissen nicht, welche Folgen und Auswirkungen das hat. Die Mächtigen denken sich diese Technologien aus, und Bürgerinnen und Bürger nutzen sie unbewusst zum Nutzen dieser Mächtigen.
Es könnte schlimmer sein
Evgeny Morozov gehört eindeutig nicht zu den optimistischen Philosophen. Ganz im Gegenteil. Er geht davon aus, dass das Internet vermehrt zu einem Instrument der Kontrolle werden wird. Eine kleine Elite wird enorme Macht über die große Masse haben, die den Preis dafür zahlt. Er erwähnt ein einfaches, alltägliches Beispiel: Eine Smartwatch misst die Vitalfunktionen einer Person und sammelt eine Menge Daten über ihren Lebensstil. Diese Informationen in den Händen einer Versicherungsgesellschaft werden dazu führen, dass viele Menschen gar nicht mehr in der Lage sind, eines ihrer Produkte zu kaufen, oder sie müssen einen sehr hohen Preis dafür bezahlen. Ähnlich wird es in allen Lebensbereichen ausschauen.
Evgeny Morozov erwähnt, dass wir uns dem Punkt nähern, an dem viele Internetdienste nicht mehr kostenlos sein werden. Werden wir für die Nutzung sozialer Netzwerke bezahlen? Natürlich, sie sind Teil unseres Lebens, ein Must-have. Und genau hier liegt der Kern des Problems: Neue Technologien sind ein Geschäft, und wie bei jedem Geschäft geht es auch hier in erster Linie darum, Gewinn zu machen.
Literaturempfehlung
- The Net Delusion: How Not to Liberate The World, Evgeny Morozov, Penguin 2012
- Datenagenten in eigener Sache: Die Zukunft der Demokratie im Big-Data-Zeitalter, Evgeny Morozov, Murmann 2014
- Smarte neue Welt: Digitale Technik und die Freiheit des Menschen, Evgeny Morozov, Karl Blassing Verlag 2013
Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.
- Rodríguez, I. S., & Morozov, E. (2014). Un paseo por el lado oscuro de la red: entrevista con Evgeny Morozov. Minerva: Revista del Círculo de Bellas Artes, (22), 66-71. https://dialnet.unirioja.es/servlet/articulo?codigo=4718142
- (1992). The different effects of technology in the development of the mind. Journal for the Study of Education and Development, 15(58), 143-159, DOI: 10.1080/02103702.1992.10822337
- Silva Robles, C., Jiménez-Marín, G., Elías Zambrano, R. (2012). De la sociedad de la información a la sociedad digital. Web 2.0 y redes sociales en el panorama mediático actual. Revista F@ro, 15, pp. 14. https://idus.us.es/handle/11441/29116