Es ist Zeit, deine verschwiegenen Gefühle herauszulassen
Manchmal möchte man wie ein Wolf durch die Gegend streunen und die höchsten Berge hinaufklettern, damit man heulen und alles herausschreien kann, worüber man bisher geschwiegen hat. Man möchte alle die Gefühle herauslassen, die man in sich verborgen und über die man nie gesprochen hat. Denn damit verschwinden all die Unsicherheit, die Masken und die Ängste davor, was die anderen Leute sagen werden, im Nebel im Tal.
Wir leben in einer Geselllschaft, die sich Gefühlen verweigert. Das hat solche Auswirkungen, dass Kinder bereits gewisse Mechanismen der Unterdrückung entwickeln, noch bevor sie zur Schule gehen: Sie halten ihre Tränen zurück, achten auf die Worte, die sie äußern, und kontrollieren ihren Gesichtsausdruck. Sie erfüllen damit eine der Anordnungen, die in der Welt der Erwachsenen gilt: Nicht weinen, nicht sprechen, und sich nicht zu offen ausdrücken.
“Die halbe Welt besteht aus Menschen, die etwas zu sagen haben, aber es nicht können. Die andere Hälfte besteht aus Menschen, die nichts zu sagen haben, es aber die ganze Zeit tun.”
Robert Frost
Es hat eine Reihe von Konsequenzen, wenn man bereits in einem solch jungen Alter Teil einer Kultur wird, die die Gefühle in ein inneres Gefängnis verbannt. Man wächst in ihr nicht einfach als ein Sklave des Stillschweigens auf. Die Kinder, die dazu erzogen werden, ihre Gefühle zu begraben, finden am Ende andere Kanäle, wie sie das ausdrücken können, was sie verschwiegen haben. Oftmals treten dann Aggressionen, Zorn und Trotz zutage.
Sigmund Freud hat gesagt, dass das Gemüt wie ein Eisberg sei. Nur ein kleiner Teil ist über der Wasseroberfläche sichtbar, der Rest liegt unter der Oberfläche. Es ist von einem eisigen Universum umgeben, das all das beinhaltet, was nicht gesagt wurde, alles, was unterdrückt wurde, und all die Worte, die man lieber verschwiegen hat, aus Angst vor den Folgen, die sie in der Öffentlichkeit hätten.
Wenn dich Menschen, die du kennst, fragen, ob alles in Ordnung sei, weil sie den Eindruck haben, es würde etwas nicht stimmen, dann antwortest du wahrscheinlich erzwungen: “Nein, nein, mir geht es gut, alles ist in Ordnung.” Und das tust du wahrscheinlich bei mehr als nur einer Gelegenheit. Wenn wir Dinge wie diese sagen, dann treten wir den Rückzug an, indem wir eine Formalität anwenden, die wir frühzeitig zu nutzen gelernt haben: Wir setzen uns eine Maske auf. Denn wir gehen davon aus, dass sich niemand darum kümmert, dass das, was in uns zerbrochen ist, nur noch an einem seidenen Faden hängt, weil wir denken, dass emotionale Wunden nur ins Private gehören.
Das wirkliche Problem rührt jedoch oftmals aus unserer Unfähigkeit, unseren wirklichen Zustand vor Leuten zu zeigen, die uns nicht nahestehen. Wir tun es nicht, weil wir denken, dass es einen Kontrollverlust bedeute, wenn wir Schmerz, Ärger oder Besorgnis vor ihnen zeigen.
Auf der anderen Seite kann es zu einer Art von Co-Abhängigkeit führen, wenn wir unsere Traurigkeit über ein bestimmtes Ereignis unseren Partnern oder unserer Familie offenbaren. Das bedeutet, dass wir uns dafür verantwortlich fühlen, wie sie auf unsere Umstände reagieren werden. Dass wir ihren Reaktionen mehr Wert beimessen als dem eigentlichen Problem, führt uns dazu, die Dinge so zu belassen, wie sie sind. Wir bewahren so lange Stillschweigen, dass es uns schließlich nichts mehr ausmacht, wenn wir noch ein bisschen mehr Leid erdulden müssen.
Wir normalisieren das Leiden wie jemand, der ein Schmerzmittel einnimmt, oder der jemandem Wasser anbietet, der am Ertrinken ist. Das ist nicht die richtige Art, mit dem Problem umzugehen. Niemand kann ewig auf einem Seil tanzen, denn früher oder später wird dieses Seil zerreißen und man fällt herunter. Es ist nur logisch, dass man nach einem Fall umso schmerzhafter aufkommt, je höher man klettert.
Du verdienst es, frei zu sein
Dies ist eine interessante Tatsache, die man bedenken sollte: Wenn dich etwas aufregt, dich verletzt oder dir Sorgen macht, wie eine scharfe Beleidigung, dann benötigt das Gehirn nur 100 Millisekunden, um emotional darauf zu reagieren. Und in nur 600 Millisekunden wird dieses Gefühl in der Hirnrinde registriert.
Wenn man sich selbst Dinge sagt, wie “Was sie sagen, macht mir nichts aus. Ich reagiere einfach so, als ob es mir nichts ausmachen würde.” dann ist es bereits zu spät, weil dein Gehirn bereits reagiert hat. Wenn man dennoch versucht, dem Ereignis andere Gefühle zuzuordnen, dann täuscht man sich selbst und verschwendet unnütze Energie und Ressourcen.
Uns wurde über eine lange Zeit hinweg beigebracht, dass es schlecht sei, wenn wir unsere wahren Gefühle herauslassen, und dass Menschen, die die Wahrheit sagen, aggressiv seien. Uns wurde beigebracht, dass es immer besser sei, unterschwellige Lügen zu benutzen, anstatt die bittere Wahrheit laut auszusprechen. Aber das ist nicht wahr. Man kann durchsetzungsfähig sein, ohne aggressiv zu sein. Und es wäre ein guter Start, einmal die traditionelle Vorstellung zu überdenken, dass das Gefühl der Gegensatz der Vernunft ist, denn auch das ist nicht wahr.
Wenn man sich selbst zugesteht, dass seine Gefühle in ihrem vollen Ausmaß zu erleben, wird das dabei helfen, seine eigenen Bedürfnisse besser zu verstehen. Es wirft ein Licht auf die Gedankenräume, die wir oft mit falschen Vorstellungen füllen, wie zum Beispiel: “Wenn ich noch ein bisschen mehr aushalte, dann werden die Dinge sich zum Besseren wenden.” Es ist ein essenzielles Bedürfnis, seine Gefühle vollkommen zu verstehen, ihnen zuzuhören und sie zu fühlen. Wir müssen dies jeden Tag praktizieren.
Wir sollten die Kunst der Durchsetzungsfähigkeit praktizieren, diese gesunde Übung realisieren, zum Ausdruck zu bringen, was wir fühlen und was wir verdient haben. Wir sollten den Mond anheulen, in die Nacht und den Tag hinausschreien, wer wir sind, was wir brauchen und was wir wert sind. Es reicht damit, dass wir die Gefühle anderer Leute über unsere eigenen stellen. Es ist Zeit, ohne Angst zu leben.