Film: "Die Linie" - Porträt einer dysfunktionalen Familie

Dieser Film zeigt uns konfliktreiche, ambivalente Beziehungen, die schädlich sind und trotzdem Abhängigkeit erzeugen. Er zeigt uns das tiefe Bedürfnis einer Tochter, von ihrer Mutter geliebt, wertgeschätzt und anerkannt zu werden. "Die Linie" erinnert uns an die Zerbrechlichkeit und Stärke unserer Emotionen. Es ist ein Film für alle, die sich mit schwierigen Beziehungen in ihrer eigenen Familie auseinander setzen. Der Film ist ab 18. Mai im Kino zu sehen.
Film: "Die Linie" - Porträt einer dysfunktionalen Familie

Geschrieben von Redaktionsteam

Letzte Aktualisierung: 18. Mai 2023

Die Schweizer Regisseurin Ursula Meier erforscht in ihrem neuen Werk Die Linie (2022) den Mikrokosmos einer Familie, der durch die turbulente Beziehung zwischen einer Mutter und ihrer ältesten Tochter geprägt wird. Die ausdrucksstarken Darsteller bewegen sich in einem abgegrenzten Raum voller Kontraste, der intensive Emotionen an die Oberfläche befördert.

Die Linie bewegt sich zwischen Drama und Komödie, Exzentrik und Zärtlichkeit, Liebesbedürfnis und Gewalt, Wut und emotionaler Abhängigkeit.

Ursula Meier erzählt eine emotionale Geschichte, die mit einer Reihe von Bildern in Zeitlupe beginnt, die Wut und Zerstörung darstellen, während wir im Hintergrund klassische Musik hören. Wie in einer Choreografie beobachtet das Publikum die harmonisierten Bewegungen der Gewalt, die durch den Lärm fallender Objekte und die Schreie der jüngsten Schwester untermauert werden. Schläge und Gewalt zwischen Frauen, die Mutter (Valeria Bruni Tedeschi) wird zum Opfer ihrer Tochter (Stéphanie Blanchoud).

DIE LINIE
Ein Film von Ursula Meier
Mit: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, India Hair, Dali Benssalah, Benjamin Biolay und anderen
Buch: Stéphanie Blanchoud, Ursula Meier, Antoine Jaccoud
Kamera: Agnès Godard (AFC)
Editorin: Nelly Quettier
Casting: Aurélie Guichard
Ton: Patrick Becker, Etienne Curchod, Valène Leroy, Franco Piscopo
Musik: Jean-François Assy, Stéphanie Blanchoud, Benjamin Biolay
Szenenbild: Ivan Niclass
Kostümbild: Anna van Brée
Maskenbild: Kaatje van Damme
Produziert von: Pauline Gygax, Max Karli
In Koproduktion mit: Marie-Ange Luciani, Jean-Pierre & Luc Dardenne, Delphine Tomson
CH / F / B 2022, 103 min

Der Ursprung dieser Gewalt ist in diesem Augenblick nicht erkennbar. Im weiteren Verlauf des Films können wir zwar ein psychologisches Profil von Margaret erstellen, die Gründe für ihre gewalttätigen Ausbrüche werden jedoch nie explizit erwähnt. Allerdings wird deutlich, dass ihre Mutter nicht nur Opfer ist, sondern ebenfalls Gewalt ausübt – jedoch keine körperliche, sondern psychische Gewalt und Manipulation. Wir analysieren dieses Porträt einer dysfunktionalen Familie etwas genauer.

Ursula Meier ist eine der bekanntesten Schweizer Filmemacherinnen und unter anderem für “Home” und “Sister” prämiert.

Die Synopsis

Margaret wird im Streit mit ihrer Mutter, der ehemaligen Konzertpianistin Christina, gewalttätig und erhält gerichtlichen Kontaktverbot. Sie muss drei Monate lang mindestens 100 Meter Abstand vom Haus ihrer Mutter halten. Margaret fühlt eine unwiderstehliche Anziehungskraft und nähert sich dem Haus immer wieder. Doch ihre Halbschwester Marion malt eine blaue Linie um das Gelände, die Margaret nicht übertreten darf.

Die Mutter lässt sich auf eine Beziehung mit dem jüngeren Hervé ein, während Margaret ihrer Schwester bei der blauen Linie Gesangsunterricht gibt und sich auch mit ihrer schwangeren Schwester Louise trifft, die Zwillinge erwartet. Die blaue Linie scheint unüberwindbar zu sein.

Die Linie und der Raum

Die blaue Linie, die Margaret physisch von ihrer Familie trennt, macht die emotionale Distanz sichtbar, die ihre Mutter aufbaut und eine Annäherung unmöglich macht. Marion, die kleine Schwester, die auf die Idee kam, die Linie auf das Gelände zu malen, hindert Margaret daran, sie zu überschreiten. Sie selbst ist diese Linie, die ihre ältere Schwester von ihrer Mutter fernhält, während sie versucht, es beiden recht zu machen. Gleichzeitig äußert sie den innigen Wunsch, eine liebevolle Familie zu haben.

Die blaue Linie führt über eine Straße, über eine Wiese und einige Meter durch einen Kanal, der den Raum zusätzlich abgrenzt. Der Ort selbst ist von Bergen und Wasser eingegrenzt, stellt jedoch auch einen Kreuzungspunkt dar, an dem Züge ein- und ausfahren. In diesem Niemandsland lernen wir jede Figur langsam kennen.

“Diese Linien schaffen die Kraftfelder, die Spannung des Films, seinen geistigen Raum.”

Ursula Meier

Die Hauptcharaktere

Alle Hauptcharaktere sind Frauen, die männlichen Figuren bleiben im Hintergrund. Die Beziehungen zwischen diesen Frauen sind sehr komplex und lassen traumatische Erfahrungen erkennen, die ihren Charakter prägen.

Die Linie

Margaret, die älteste Tochter

Margaret ist eine ausgegrenzte 35-jährige Frau mit psychischen Problemen, die zur Gewalttätigkeit neigt. Sie ist nicht fähig, den beschriebenen Raum zu verlassen. Jeden Tag nähert sie sich der blauen Linie, hinter der sich ihre Familie befindet, kann diese jedoch nicht überschreiten. Auch von ihrem früheren Musiker-Kollegen (oder Ex-Freund), bei dem sie zwischenzeitlich wohnt, kann sie sich nicht definitiv trennen.

Margaret kennt keine Grenzen, sie kämpft wie ein verwundetes Tier. Sie handelt impulsiv, da es ihr an Selbstkontrolle mangelt. Sie kennt keine Filter und keine Diplomatie. Ihre kleine Schwester zwingt sie jedoch, Grenzen zu respektieren. Sie muss lernen, die blaue Linie nicht zu überschreiten.

Margaret hat ein starkes Bedürfnis nach Liebe, Nähe und Anerkennungdas von ihrer Mutter nie erfüllt wurde. Sie versucht, ihrer kleinen Schwester jene Liebe zu schenken, die sie selbst nie erhielt. Und sie versucht, sie vor ihrer Mutter zu schützen. Der anfängliche Streit und die Gewalt wurde ausgelöst, da die Mutter Marion in ihrem Kommunionskleid verspottet hatte. Gleichzeitig macht sich Margaret jedoch Sorgen um ihre Mutter und sehnt sich nach ihrer Liebe und Zuwendung. Sie wollte sie nicht verletzen, denn sie braucht sie, ist abhängig von ihr.

Im Film wird deutlich, dass sich Margaret selbst Verletzungen zufügte. Selbstverletzendes Verhalten ist ein Hilferuf, hinter dem sich seelisches Leid und Einsamkeit verbergen. Häufig ist dieses Verhalten auf traumatische Erfahrungen wie sexuellen Missbrauch oder psychische und körperliche Gewalt zurückzuführen.

Im Falle von Margaret können wir davon ausgehen, dass sie von ihrer Mutter vernachlässigt wurde. Es fehlte ihr an Wertschätzung und Zuneigung. Ihre Mutter betrachtete sie als Versagerin. Viele Personen in dieser Situation bestrafen ihr vermeintliches Versagen durch Selbstverletzung: Sie fügen sich selbst Schmerzen zu, um ihr seelisches Leid zu lindern.

Selbstbeschädigung tritt häufig im Zusammenhang mit psychiatrischen Krankheiten auf. Ein Beispiel dafür ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung. In Die Linie wird nie ausdrücklich erwähnt, ob oder an welcher psychischen Störung Margaret leidet. Wir können jedoch für diese Störung charakteristische Symptome an ihr beobachten:

  • Selbstverletzung
  • Wut und Aggressivität
  • Impulsivität und fehlende Selbstkontrolle
  • Gefühlsstürme
  • intensive und instabile Beziehungen
  • Angst vor dem Verlassenwerden
  • chronische Gefühle von Leere

Margaret zeigt in allen ihren Handlungen, wie sehr sie Zuwendung und Hilfe, Liebe und Verständnis benötigt. 

Christina, die egozentrische Mutter

Die Mutter konzentrierte sich in ihrer Jugend auf ihre Karriere als Pianistin, bis sie schwanger wurde. Wir können sie als toxische, dysfunktionale Mutter bezeichnen, für die ihre Liebhaber wichtiger waren als ihre Töchter. Über ihre eigene Geschichte kennen wir wenige Details, wir können nur vermuten, dass transgenerationale Traumata im Verborgenen vorhanden sind. Was wir wissen ist, dass Christina keineswegs dem klassischen Bild einer liebenden Mutter entspricht.

Sie ist der Ursprung des psychischen Leids ihrer ältesten Tochter. Christina ist egozentrisch und wirft ihrer ältesten Tochter vor, für das Scheitern ihrer Karriere als Pianistin verantwortlich zu sein. Sie beschuldigt Margaret außerdem, das von ihr geerbte musikalische Talent zu vergeuden. “Margaret hatte alles. Sie ist Musikerin, das hat sie von mir. Und was hat sie daraus gemacht? Nichts.”

Christina fühlt sich unglücklich mit ihren Töchtern. Von ihrer zweitgeborenen Tochter Louise (India Hair) hält sie nicht viel: “Louise nehm ich’s nicht übel. Sie ist keine Künstlerin und unmusikalisch. Sie ist fürs normale Leben gemacht. Sie wird eine gute Mutter und das wird ihr reichen.” Christina ist frustriert, da sie ihre Karriere abbrechen musste, weiß jedoch auch, dass sie nie eine gute Mutter war.

Christina zeigt jedoch, dass sie liebevoll sein kann, und zwar ihrer jüngsten Tochter gegenüber. Sie nennt Marion (Elli Spagnolo) “kleines Wunder des Lebens”. Trotzdem ist sie so sehr mit sich selbst und ihren Beziehungen beschäftigt, dass sie sich kaum um sie kümmert.

Die Linie

Marion, die jüngste Schwester

Margaret unterrichtet Marion an der blauen Linie in religiösem Gesang. Sie kümmert sich um ihre zwölfjährige, von der Mutter vernachlässigte Schwester, die versucht, im Gebet zu Gott Trost und Hoffnung zu finden.

Die kleine Schwester steht wie die blaue Linie zwischen ihrer Mutter und Margaret: Hin- und hergerissen versucht sie, zu beiden loyal zu sein. Sie hat Angst vor weiteren gewalttätigen Szenen und ist bereit zu lügen, um sowohl ihre Mutter als auch ihre Schwester zu schützen.

Marion ist die Hüterin der blauen Linie und ist bereit zu lügen, um die Distanz zwischen den beiden Konfliktparteien zu garantieren. Gleichzeitig wünscht sie sich nichts sehnlicher, als eine vereinte, liebevolle Familie zu haben.

Auch Marion ist ein Opfer: Die schwierige Situation zwischen ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester zerstört ihre Kindheit. Wir sehen das am Tag ihrer Kommunion, die nicht stattfindet, da ihre Mutter im Krankenhaus ist.

Die Beziehung zwischen Marion und ihrer Mutter ist wechselhaft. Christina zeigt ihr manchmal ihre Liebe, vernachlässigt sie jedoch häufig. Diese Unzuverlässigkeit ist charakteristisch für eine unsicher-ambivalente Bindung: Das Kind weiß nie, wie die Bezugsperson auf seine Gefühle oder Bedürfnisse reagiert. Die fehlende Konstanz führt zu dysfunktionalen Denkmustern und Glaubenssätzen. 

Wir kennen die Kindheit von Margaret nicht, können jedoch davon ausgehen, dass sie von ihrer Mutter ähnlich wie Marion behandelt wurde. Die Folgen einer dysfunktionalen Bindung können tiefe Spuren hinterlassen. Bei Marion können wir die innere Zerrissenheit beobachten, die sich hinter der Sehnsucht nach Harmonie verbirgt. Wie ihre große Schwester ist sie von ihrer Mutter abhängig und versucht, trotz der Vernachlässigung stark zu sein und ihrer Vermittlerrolle nachzukommen.

Louise, die schwangere Schwester

Louise ist wie ihre kleine Schwester Marion ein ausgleichender, vermittelnder Charakter. Sie überwindet Grenzen und versucht, ihre Mutter dazu zu bringen, auf ihre älteste Tochter zuzugehen und sich mit ihr zu versöhnen. Sie gibt der Familie einen gewissen Halt und sorgt für Stabilität. Wir erinnern uns an die Aussage ihrer Mutter: “Sie wird eine gute Mutter und das wird ihr reichen.” Tatsächlich übernimmt Louise in gewissem Maße die Mutterrolle für ihre Schwestern und auch für ihre eigene Mutter.

Als Louise ihre Zwillingstöchter zur Welt bringt, wird deutlich, dass sich Christina auch in ihrer Großmutterrolle nicht wohlfühlt. Sie ist keine geborene Mutter, sondern eine selbstbezogene Frau, die mit ihren eigenen Problemen beschäftigt ist.

Die Linie

Wir sehen in Die Linie, wie schwierig es ist, innere und äußere Grenzen zu überwinden, die eigenen Ängste und Überzeugungen zurückzulassen, den ersten Schritt zu tun… Dieser Film zeigt uns konfliktreiche, ambivalente Beziehungen, die schädlich sind und trotzdem Abhängigkeit erzeugen. Er zeigt uns das tiefe Bedürfnis einer Tochter, von ihrer Mutter geliebt, wertgeschätzt und anerkannt zu werden. Die Linie erinnert uns an die Zerbrechlichkeit und Stärke unserer Emotionen.

Bilder freundlicherweise zur Verfügung gestellt von pifflmedien.de.


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.