Der blinde Virgil: Sehen oder nicht sehen?
Der bekannte Neurologe Oliver Sacks berichtete über die eindrucksvolle Geschichte eines blinden Mannes, der eine Operation wagte, um die Welt zu sehen. Virgil kam kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Kentucky (USA) zur Welt. Als er ein oder zwei Jahre alt war, bemerkte seine Mutter, dass er Schwierigkeiten beim Sehen hatte.
Im Alter von drei Jahren erkrankte Virgil sehr stark, was sein Leben verändern sollte. Er litt gleichzeitig an einer Hirnhautentzündung, an Kinderlähmung und an einer durch eine Katze ausgelösten Infektion. Dies führte zu Krampfanfällen, er wurde praktisch blind und seine Beine waren gelähmt. Schließlich fiel Virgil in ein Koma und als er wieder zu sich kam, hatte sich seine Persönlichkeit stark verändert.
Er war nunmehr weitaus passiver und konformer, was er zuvor nie war. Damit beginnt die beeindruckende Geschichte des Patienten Virgil.
“In uns gibt es etwas, das keinen Namen hat, und das ist das, was wir wirklich sind.”
José Saramago
Sehen oder nicht sehen?
Nach einem Jahr war Virgil schließlich wieder gesund. Er konnte sogar wieder sehen, allerdings waren seine Netzhäute stark geschädigt. Zwei Jahre später erblindete er auf beiden Augen durch den Grauen Star. Jetzt konnte der Junge nur noch Licht und Dunkelheit differenzieren und manche Schatten sehen. Er wurde deshalb auf eine Blindenschule geschickt.
Im Laufe der Jahre gelang es Virgil, ein relativ normales Leben zu führen . Er lernte die Blindenschrift und schloss die High School ab. Später studierte er Physiotherapie und wurde ein hoch angesehener Fachmann. Er zog in eine andere Stadt, wo er einen erfüllenden und hochgeschätzten Job bekam.
Doch es gab einen Wendepunkt im Leben dieses Mannes: Mit fast 45 Jahren traf er eine Jugendfreundin, Amy. Sie war schon seit einigen Jahren geschieden und hatte Virgil sehr gern. Sie beschlossen, zu heiraten. Amy hegte den Gedanken, dass ihr zukünftiger Ehemann vielleicht sein Augenlicht wiedererlangen könnte.
Virgil, ein rätselhafter Patient
Amy brachte ihn zu einem Augenarzt. Dieser stellte fest, dass die ursprüngliche Diagnose möglicherweise falsch formuliert worden war. Er informierte Virgil, dass der Graue Star operativ entfernt werden könnte und es gute Chancen gebe, wieder sehen zu können. Dem Patienten selbst war das gleichgültig, doch seine Freundin war sehr aufgeregt.
Schließlich ließ er sich operieren und als die Verbände entfernt wurden, behauptete Virgil, sehen zu können. Doch er reagierte nicht mit Freude, sondern mit Angst und Verwirrung. Er konnte sich nicht mehr an seine frühe Kindheit erinnern, in der er sehen konnte und war nichts anderes gewohnt, als blind zu sein. Oliver Sacks weist darauf hin, dass es nur sehr wenige Fälle gibt, in denen ein Mensch nach so vielen Jahren wieder sehen kann.
Die visuelle Realität hatte eine sehr starke Wirkung auf Virgil. Es dauerte lange, bis er verstand, dass ein Gesicht ein Gesicht ist und kein sich bewegender Klecks. Er hatte auch Schwierigkeiten, Entfernungen durch visuelle Tiefe abzuschätzen. Außerdem war Virgil verängstigt, weil er nicht wusste, wie nah die Objekte an ihm waren.
Virgil und das Wunder des Sehens
Seine Umgebung erlebte die erfolgreiche Operation wie ein Wunder, doch Virgil selbst fühlte sich hilflos und unsicher. Jeden Tag lernte er Hunderte von neuen Dingen zu “sehen”. Und jeden Tag hat er auch viel davon vergessen. Es waren zu viele Informationen auf einmal.
Wenn er sich Baseballspiele ansah, anstatt ihnen zuzuhören, war sein Kopf ganz durcheinander. Er konnte nicht verstehen, was vor sich ging. Er sah nur “Dinge”, die sich hin- und herbewegten, aber er konnte sie nicht zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Kurz vor seiner Hochzeit war diese Situation außerordentlich stressig und Virgil machte deutliche Rückschritte: Manchmal verhielt er sich wieder wie ein Blinder.
Monate später waren seine Abwehrkräfte extrem schlecht und auch sein psychischer Zustand war besorgniserregend. Virgil war schwer krank und mehrere Monate im Krankenhaus. Als er das Krankenhaus verließ, stellte er neue Schäden an seiner Netzhaut fest. Kurze Zeit später wurde er dauerhaft blind. Dadurch wurde er ruhiger. Es gibt ähnliche Fälle, in denen für andere Patienten das Sehen ebenfalls zum Fluch wurde, da ihr Verstand nicht daran gewöhnt war.
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Rodríguez Díaz, S. (2013). Más allá de la discapacidad: reflexiones en torno a la relatividad de la organización sensorial. Revista Sociológica de pensamiento crítico, 5(2).