Call Me by Your Name: Eine Erfahrung, die Spuren hinterlässt

Call Me by Your Name: Eine Erfahrung, die Spuren hinterlässt
Leah Padalino

Geschrieben und geprüft von der Filmkritikerin Leah Padalino.

Letzte Aktualisierung: 17. Januar 2023

Es ist schwer zu beschreiben, was es bedeutet, Call Me by Your Name  zu sehen. Es ist auch schwer zu sagen, welche Emotionen dieser Film in seinen Zuschauern auslöst. Denn Call Me by Your Name  ist mehr als ein Film. Es beschreibt den Dialog mit unserem inneren Kind, mit uns selbst. Wir werden erinnert an etwas, das wir vielleicht selbst erlebt haben. Das Werk nimmt uns mit auf eine nostalgische Reise in diese idyllischen Sommer, die kein Ende zu haben schienen. Es ist auch eine Liebeserklärung an die menschliche Natur, das Leben, die Einfachheit, unsere Körper, Erfahrungen, Wünsche und die erste Liebe.

Call Me by Your Name,  bei dem Luca Guadagnino Regie führte und Timothée Chalamet und Armie Hammer die Hauptrollen spielen, war einer der meistdiskutierten Filme des Jahres 2017. Er wurde auf dem Sundance Film Festival uraufgeführt und auf vielen weiteren Filmfestivals gezeigt. Er erhielt vier Oscar-Nominierungen und schließlich auch den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch.

Ein subtiles Thema in einem authentischen Film

Die Geschichte, die Guadagnino uns präsentiert, legt den Fokus nicht auf die Homosexualität der Hauptfiguren. Denn der Film schafft es, den Zuschauer auf eine intimere und persönliche Ebene mitzunehmen. Es geht mehr um die erste Liebe. Im Gegensatz zu vielen Filmen mit ähnlicher Thematik ist Call Me by Your Name  kein Melodrama. Der Film ist authentisch, wunderschön und auch emotional.

Elio spielt Klavier  - eine Filmszene aus "Call Me by Your Name"

In einer zunehmend kälteren Welt, in der menschliche Beziehungen über Bildschirme gedeihen; wo Bücher nichts anderes sind als eine fremde, vergessene und staubige Dekoration in einem Rregal; wo das Kino uns nur mit seinen teuren Spezialeffekten fasziniert; wo wir uns wie Zombies verhalten und lange Schlangen bilden, um zu konsumieren; und wo wir merken, dass die Gesellschaft ihre Essenz verloren hat, es ihr an Menschlichkeit und Selbstkritik fehlt … Inmitten all dieser Phänomene erschien Call Me by Your Name

Dieser Film ist wie eine kalte Dusche, weil er uns aus unserem Dornröschenschlaf weckt, aus diesem künstlichen Paradies, in dem wir leben. Der Film erinnert uns daran, was es bedeutet, Mensch zu sein.

Das Call-Me-by-Your-Name-Erlebnis

Elio ist ein junger Teenager, der aus einer Familie mit US-amerikanischen, italienischen, französischen und jüdischen Wurzeln stammt. Seine Sommer verbringt er mit seinen Eltern in einem idyllischen Haus in Norditalien, nicht weit vom Gardasee entfernt. Sein Vater ist Universitätsprofessor. Wie jedes Jahr hat Elios Vater einen Studenten eingeladen, um einige Zeit bei Elios Familie in Italien zu bleiben. In diesem Jahr heißt die Familie Oliver willkommen. Zwischen Elio und Oliver entsteht schon bald eine besondere Verbindung und beide erleben einen intensiven Sommer, in dem sie sich selbst entdecken.

Elio befindet sich in einem Stadium des sexuellen Erwachens. Das heißt, er lernt gerade seinen eigenen Körper kennen. Wir verfolgen die Geschichte aus Elios Perspektive, ganz so, als ob sie auf uns projiziert würde. Elio wächst in einem multikulturellen Umfeld auf. Seine Eltern sind sehr gebildete Leute und er hat sich immer schon für Bücher und Musik interessiert. Für Letztere hat er sogar ein besonders Talent. Er ist introvertiert und intelligent. Er scheint alles zu wissen – nur seine Gefühle versteht er nicht.

Call Me by Your Name  ist authentisch und aufrichtig. Der Film lädt uns ein, unsere eigenen Erfahrungen neu zu reflektieren. Wir erkennen uns in Elio und begehren Oliver genauso wie er. Dieser Wunsch wird ohne Scham oder Pathos beschrieben. Wir sehen dies in der Magie ihres ersten Kusses, bei dem Elio nicht weiß, was er mit seinem Mund anfangen soll. Aber wir sehen es auch in den intimsten Szenen, in denen Elio, ohne ein Wort zu sagen, eine ganze Reihe von Empfindungen vermittelt, mit denen wir uns identifizieren können.

Ein Film über Liebe, Verlangen und sexuelles Erwachen

Der Film ist nicht nur eine Liebesgeschichte. Er zeigt auf der Leinwand eine nie zuvor gesehene Art des Verlangens, diesen ersten Lockruf der Sexualität, diese Entdeckung des Körpers, die bedeutet, dass wir nie wieder Kinder sein werden.

Für Elio ist dieser Wunsch verwirrend. Er ist zwischen Marzia und Oliver hin- und hergerissen, aber er merkt schließlich, dass er etwas sehr Intensives für Oliver fühlt, etwas, das er gegenüber Marzia nie gespürt hat. Seine Homosexualität bleibt jedoch ein subtiles Thema, obwohl sie angesprochen wird. Die Ursprünglichkeit des Films lässt uns darüber hinwegsehen. Die Homosexualität ist nur eine Form der Liebe unter vielen und wir können uns mit den Protagonisten identifizieren, ganz gleich, wie wir unsere Sexualität definieren.

Elios Empfindungen lassen uns an unsere eigenen Erlebnisse denken. Wir erinnern uns an jemanden oder etwas, eine Emotion, einen Geruch, einen Geschmack. Der Zuschauer hört auf, Zuschauer zu sein, und nimmt an Elios Erfahrung teil. Wir können die Figuren des Films fast berühren und wir fühlen wie sie.

Call Me by Your Name  verwandelt die gewohnheitsmäßige Passivität der Zuschauer. Der Film nimmt uns gefangen, mit einer Geschichte, in der eigentlich nichts Außergewöhnliches passiert, eine Geschichte, in der es keine Intrigen gibt. Aber beides ist nicht notwendig, um unser Interesse zu halten. Elio wird Teil von uns, ein Spiegel, in dem wir unsere eigene Jugend betrachten können.

Oliver und Elio liegen gemeinsam im Gras - eine Filmszene aus "Call Me by Your Name"

Die Magie des Sommers

Die norditalienische Kulisse bildet zusammen mit dem magischen Teenager-Sommer den Hintergrund dieser Liebesgeschichte. Call Me by Your Name  erinnert uns an jene Sommer, in denen die Zeit stehen zu bleiben schien und es für uns aussah, als gäbe es keine andere Welt außer uns und unserem Umfeld.

Guadagnino wollte eine erstaunliche Geschichte erzählen, und das ist ihm zweifellos gelungen. Er lässt uns jene Welt vergessen, in der wir uns befinden, während wir diesen Film sehen. Wir erinnern uns an idyllische Sommer, in denen wir neue Freunde gefunden oder alte Kontakte gepflegt haben. Es waren die Sommer, in denen wir zuerst die Liebe entdeckten, unsere erste Zigarette rauchten oder zum ersten Mal zum Tanzen ausgingen.

Jeder Moment von Elios Sommer fühlt sich wie unser eigener an. Wir wissen jedoch, dass jeder Sommer ein Ende hat. Folglich haben die Liebesgeschichten, die in dieser Zeit entstehen, ein Verfallsdatum – und dieses Verfallsdatum lässt uns den Sommer erst als magischen Moment wahrnehmen. Diese Magie besitzt auch der Film, denn wenn wir ihn sehen, glauben wir, die Sonne auf unserer Haut spüren, den Kaffee und die Pfirsiche riechen zu können. Wir feiern Parties und erschaudern im kalten Wasser des Flusses.

Den Sommer genießen - eine Filmszene aus "Call Me by Your Name"

Nicht zum Schweigen gebracht

Wenn Elio seine Gefühle zum Schweigen gebracht oder nicht auf seine innere Stimme gehört hätte, wäre diese Geschichte nicht die gleiche gewesen. Sprechen oder sterben? Die Frage taucht im gesamten Film auf, aber Elio beschließt, sein Geheimnis nicht für sich zu behalten. Ohne viel zu sagen, bricht er sein Schweigen.

Manchmal verstecken auch wir unsere Gefühle und unsere Identität. Call Me by Your Name  erinnert uns an unsere menschlichste Seite. Dieser Film lädt uns ein, über unsere Gefühle zu sprechen.

Er spielt im Jahr 1983, als wir noch nicht wussten, was das Internet war und als Bücher noch mächtig waren. Auch das macht uns nostalgisch. Es veranlasst uns zu einer Reise in die Vergangenheit, zu den Sommern, in denen wir die eine besondere Person getroffen haben, von der wir glaubten, dass sie die Liebe unseres Lebens sein könnte. Elio weiß alles, aber er weiß nichts von den wirklich wichtigen Dingen.

Sagen wir das Richtige, denn das genügt. Genau das schafft Call Me by Your Name,  ein Film, der sichtbar macht, was unsichtbar zu sein scheint und das Unaussprechliche ohne Tabus auf die Leinwand bringt. Mehr als ein Film wird dieses Werk zu einem Erlebnis.

“Nenn mich bei deinem Namen und ich nenne dich bei meinem.”

Elio, Call Me by Your Name

 

 

 


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.