"1899" - eine Reise in die Abgründe des menschlichen Geistes
Es gibt Serien, die reine Unterhaltung sind und keine tiefgehenden Fragen stellen, und es gibt die Serien von Jantje Friese und Baran Bo Odar, die uns zur Reflexion anregen, vor dunkle Rätsel stellen und uns einladen, lose Puzzleteile zusammenzusetzen. Die neue Produktion der Macher von “Dark” trägt den Titel “1899″. Diesmal bewegen wir uns auf eine geheimnisvolle Reise an Bord der Kerberos, einem Schiff, das im letzten Jahr des 19. Jahrhunderts den Atlantik überquerte.
Die Kritiken zu dieser neuen Netflix-Serie sind vielfältig und uneinheitlich. Manchen ist die Produktion zu langsam und umständlich, andere sind davon begeistert. Wer das kosmische und psychologische Rätsel noch nicht entdeckt hat, sollte sich die Serie auf jeden Fall ansehen. Du erhältst anfangs ein diffuses, chaotisches Bild, doch wenn du einen Schritt zurücktrittst und eine umfassendere Perspektive einnimmst, erkennst du die Schönheit des Gemäldes in seiner Gesamtheit.
Die erste Staffel gibt einen Einblick in ein kleines Fragment einer Geschichte, die riesig und gewaltig zu sein scheint. Diese Erzählung geht weit über das Offensichtliche hinaus: Es geht um den Sinn der Existenz und des menschlichen Bewusstseins.
“Mehr als der Himmel fasst – das Hirn –
Legst du sie Seit an Seit –
Umschließt das eine auch den andern –
Und Dich – mit Leichtigkeit –
Das Hirn ist tiefer als das Meer –
Hältst du sie – Blau an Blau –
Saugt eins – wie Schwamm den Eimer leert –
Das andre in sich auf – “
“1899” – eine Reise in die Abgründe des menschlichen Geistes
Die Reise auf der Kerberos in die Vereinigten Staaten stellt uns eine ganze Reihe von unterschiedlichen Charakteren vor. Man könnte sagen, dass das Schiff selbst ein ganzer Kontinent in einem ganz besonderen Mikrokosmos ist. Es gibt Reisende verschiedener Nationalitäten: ein französisches, frisch verheiratetes Paar, ein Priester und sein hochmütiger Bruder, eine chinesische Mutter und ihre Tochter…
Der Kesselraum wird von polnischen und englischen Angestellten bewohnt, das Unterdeck wird von bescheidenen dänischen Einwanderern bevölkert. Inmitten dieses Geflechts von Persönlichkeiten sticht Eyk, der melancholische Kapitän, hervor und vor allem Maura Franklin, eine junge Neurologin, die das Epizentrum der Geschichte ist.
In jeder Folge erfahren wir, wie in “Lost”, etwas über die dunkle Vergangenheit der verschiedenen Figuren. Im Laufe der Serie wird uns jedoch klar, dass jede Person an Bord der Kerberos eher als Möglichkeit denn als objektive Realität existiert. Sobald sie auf die Prometheus stoßen, ihr Schwesterschiff, das ein paar Monate zuvor auf See verloren gegangen war, gerät alles aus den Fugen…
Eine der Hauptattraktionen von “1899” ist die Sprachmischung der Figuren. Das Schiff ist wie ein Kontinent von Nationalitäten, die gezwungen sind, sich zusammenzuschließen, um das Rätsel zu lösen, das sie umgibt.
In die Tiefe eintauchen
Eine Tatsache ist sofort klar: Die Kerberos ist ein Schiff, das für die damalige Zeit sehr ungewöhnliche Technologie aufweist. Auch die Reisenden scheinen sich gegenseitig zu kennen, obwohl sie nicht dieselbe Sprache sprechen und unterschiedliche Nationalitäten haben. Es gibt auch ein Element, das als dekorative Figur ständig wiederholt wird: ein umgedrehtes Dreieck.
Die Begegnung mit der Prometheus und ihrem einzigen Überlebenden, einem Jungen, der eine dunkle Pyramide in der Hand hält, bringt das Gleichgewicht der Reisenden und der Besatzung völlig durcheinander. Ungeklärte Todesfälle und Selbstmorde beginnen. Allmählich und fast im Gleichschritt wird eine Reihe beunruhigender Phänomene ausgelöst, die zur Zersplitterung aller Elemente führen, sowohl der menschlichen als auch der materiellen.
Angesichts einer solchen Katastrophe, der Ängste und Unsicherheiten bricht die Schiffshierarchie zusammen. Eine Meuterei bricht aus und die Überlebenden stellen fest, dass sie, obwohl sie sich an Bord eines Schiffes mitten im Nirgendwo befinden, vor sich selbst zu fliehen scheinen. Von den Menschen, die sie sind. Der Ozean bricht über ein Boot herein, in dem die Realität immer mehr verzerrt wird.
Die Schichten der Erinnerung und die Allegorie des menschlichen Gehirns
Dr. Maura Franklin scheint der rote Faden zu sein, der sich durch alles zieht, was auf der Kerberos passiert. Alle sehnen sich danach, Antworten auf die Geschehnisse zu erhalten, aber sie ist nicht in der Lage, das zu tun. Sie hat ihr Gedächtnis verloren und leidet unter einer dissoziativen Störung. Es gibt etwas Traumatisches in ihrer Vergangenheit, etwas Dunkles, das aus ihrem Bewusstsein verdrängt wurde und ihre Identität und Zeitwahrnehmung verändert.
Das Schiff, auf dem sie reisen, ist ein Projekt, das die Gedanken der Passagiere in einer Erzählung, in einer geheimnisvollen Simulation gefangen hält. Figuren wie Maura und Kapitän Eyk haben jedoch die Möglichkeit, in ihre eigenen Gedächtnisschichten hinabzusteigen, um nach dem Ursprung dieses Chaos zu suchen. Sie tun dies durch Falltüren, die unter den Kopfteilen ihrer Betten versteckt sind.
Faszinierend ist auch, was sich hinter der Panzerung der Kerberos verbirgt. Das gesamte Schiff ist mit einer dichten Verkabelung überzogen, die wie Neuronen miteinander verbunden sind, damit die Wahrnehmung dieser Realität nicht verblasst. Nur eine seltsame Gestalt, die behauptet, Maura zu kennen, versucht, dieses schlafende Gehirn zu stimulieren, damit es aufwacht…
“1899” ist ein brillantes Intelligenzspiel, in dem Informationen bewusst versteckt werden, damit wir unsere eigenen Vermutungen anstellen. Und diese können unendlich sein.. .
Ein endloser Kreislauf und ein rätselhaftes Erwachen
Wir nehmen zuerst an, dass wir es mit einer Art unerklärlicher wissenschaftlicher Abnormalität zu tun haben. Die Passagiere sind gezwungen, immer wieder eine Endlosschleife zu durchleben, in der sie sterben und die gleiche Reise unendlich oft neu beginnen. Niemand taucht aus den Schichten ihrer Erinnerung auf und Maura scheint nicht in der Lage zu sein, mit dem Ursprung ihres Schmerzes, ihres psychologischen Traumas, in Kontakt zu treten.
Erst im letzten Moment scheint sie den Schlüssel zu finden, mit dem sie ihr Bewusstsein aufschließen kann. Und ihr Erwachen könnte nicht rätselhafter sein. Am Ende des letzten Kapitels werden wir wieder einmal mit mehr Fragen als Antworten konfrontiert. Denn “1899” ist ein Rätsel, ein unerklärliches Mysterium.
Produktionen wie diese erfordern Geduld und Reflexion. Das Handy legst du am besten zur Seite, denn du wie bei “Dark” kommt die Enthüllung zu gegebener Zeit. Aber zuerst reist du durch verstörende Raum-Zeit-Schichten und begleitest die rätselhaften Charaktere, die nie so sind, wie sie zu sein scheinen…