Was ist Nationalismus?

Alfred Einstein verglich den Nationalismus mit der Kinderkrankheit Masern. Aber warum entwickeln Menschen diese starke Identität gegenüber ihrer eigenen ethnischen Gruppe oder Kultur? Hat diese Haltung auch positive Aspekte?
Was ist Nationalismus?
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 11. Mai 2024

Persönlichkeiten wie Sigmund Freud und Abraham Maslow lehrten uns, dass eine unserer stärksten Motivationen darin besteht, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu befriedigen. Im Laufe der Sozialisation entwickeln wir uns von der Egozentrik zur Soziozentrik, manche Personen entfalten dabei eine starke nationale Bindung. Das heißt, eine emotionale, einstellungsbezogene und identitätsbezogene Bindung an ihre ethnische Gemeinschaft: Nationalismus.

Dieses Konzept hat eine komplexe Geschichte. Wenn wir es aus einer sozialpsychologischen Perspektive verstehen, können wir seine Anatomie nachvollziehen. Es geht um das “wir gegen sie”, das tiefe Konflikte und geostrategische Probleme auslöst.

“Nationalismus ist untrennbar mit dem Wunsch nach Macht verbunden; das ständige Ziel jedes Nationalisten ist es, mehr Macht und mehr Ansehen zu erlangen, nicht für sich selbst, sondern für die Nation oder das Gebilde, das er gewählt hat, um darin seine eigene Individualität zu verwässern.”

George Orwell

Kopf mit Zahnrädern repräsentiertt Nationalismus
Der nationalistische Geist entwickelt starke Einstellungen und Überzeugungen über die eigene ethnische Gemeinschaft und grenzt sich von anderen Kulturen ab.

Was ist Nationalismus?

In den vergangenen Jahren hat der Nationalismus wieder Einzug in unsere Gesellschaften gehalten. Donald Trump hat diese Tendenz beispielsweise mit dem Slogan “America first” gefördert. Auch das Vereinigte Königreich hat mit dem Brexit und seinem Austritt aus der Europäischen Union versucht, die Bedeutung seiner Identität als Land zu betonen. Doch abgesehen von diesen aktuellen Realitäten, fragen wir uns heute, was Nationalismus ist.

Der Psychologe Joshua Searle-White von der Clark University definiert in seinem Buch The Psychology of Nationalism (2001)  Nationalismus als die Entwicklung einer starken Identität und Bindung an eine Nation. Die eigene ethnische Gemeinschaft befriedigt alle emotionalen, kulturellen und sozioökonomischen Bedürfnisse. Diese intensive Zugehörigkeit führt oft dazu, dass man die eigene Nation als anderen überlegen ansieht.

Genau hier liegt die Gefahr des Nationalismus. Die Loyalität gegenüber dem eigenen Territorium und den Menschen der Eigengruppe (Ingroup) ist so stark, dass ein deutlicher Unterschied zwischen “uns” und “den anderen” entsteht.

Auch wenn dies nicht per se schlecht ist, gibt es Faktoren, die im Laufe der Geschichte zu vielen Konflikten geführt haben. Man muss sich nur an die Angst des Sozialpsychologen Erich Fromm vor dem Nationalismus erinnern. Er hielt ihn für eine Form von Inzest und eine Sekte (Wege aus einer kranken Gesellschaft¹). 

Die Merkmale des Nationalismus

Woher kommen Nationalismen? Warum organisieren sich Menschen manchmal in Identitätsgruppen und geraten mit anderen in Konflikt? Zunächst einmal müssen wir verstehen, dass es sich um ein komplexes Phänomen handelt, das gesellschaftlich und psychologisch konstruiert ist.

Außerdem weisen Forschungsarbeiten wie eine der Indira Gandhi National University in Indien auf etwas Wichtiges hin: Der Nationalismus blühte im Europa des 18. Jahrhunderts mit der Französischen Revolution auf und prägt in gewisser Weise die moderne Welt. Später haben die napoleonischen Kriege, die Revolutionen des 19. Jahrhunderts und die antikolonialen Bewegungen das Konzept der Nation, des Nationalismus und auch der sozialen Identität begründet. Wir schauen uns verschiedene Theorien an, die seine Merkmale beschreiben.

1. Primordialismus und Biopsychologie

Das primordialistische Konzept des Nationalismus wurde in den 1970er-Jahren von dem Anthropologen Clifford James Geertz geprägt. Diesem Modell zufolge ist ein solches Verhalten in jeder Kultur verwurzelt, es ist eine Erscheinung, die auf Emotionen zurückgeht und innerhalb von Familien weitergegeben wird.

Dieses Verhalten hat auch mit kulturellen und religiösen Aspekten zu tun, es ist vielen Mentalitäten inhärent, weil sie damit aufwachsen. Pierre van den Berghe berücksichtigt in seinem Buch The Ethnic Phenomenon² auch den biopsychologischen Faktor: Nationalismen wären demnach eine Form der sozialen Evolution, in der sich eine Art von Gruppenselbstbewusstsein entwickelt.

2. Modernistische Theorie

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden modernistische Theorien, die den Nationalismus als einen Weg zur Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft definierten. Die Identität des Volkes förderte die Einheit im Streben nach einer gemeinsamen Verbesserung. Das Problem ist, dass dieses Phänomen im Laufe der Zeit zu unethischen Bewegungen führte.

Anthony D. Smith definiert die Bedingungen für die Entstehung des Nationalismus wie folgt:

  • Kriegerische Vergangenheit
  • Definiertes Heimatland
  • Besonderes historisches und/oder religiöses Erbe
  • Feindliche soziale Situation oder ein krisenhaftes Umfeld
  • Besondere Bräuche sowie eine eigene Sprache oder Kultur

3. Instrumentalistische Theorien

Der Instrumentalismus geht davon aus, dass Nationalismus das Ergebnis einer Reihe bestimmter politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ereignisse ist, die ihn auslösen. Es handelt sich um ein dynamisches Phänomen, das sich verändert und anpasst, aber immer darauf abzielt, etwas zu erreichen, z. B. Veränderung oder Unzufriedenheit auszudrücken. Die führende Figur dieses Modells war Fredrik Barth.

4. Ökonomistische Theorien

Nach dem ökonomistischen Modell beruht der Nationalismus keineswegs auf dem Bewusstsein oder der Zuneigung zur eigenen Kultur, Sprache und Geschichte, sondern vielmehr auf einem wirtschaftlichen Interesse. Der vermeintliche Patriotismus wäre demnach ein Versuch, Mechanismen zu fördern, mit denen man direkte oder indirekte wirtschaftliche Vorteile erzielen kann.

Der Nationalismus hat eine komplexe Geschichte, die ihren Ursprung im frühneuzeitlichen Europa hat. Von dort aus entwickelte er sich weiter und führte oft zu feindseligen und problematischen Erscheinungsformen auf allen Ebenen.

Mann ist von Nationalismus überzeugt
Der Nationalismus bedient sich häufig der Gewalt als Instrument.

Arten von Nationalismus

Viele Experten auf dem Gebiet der Psychosoziologie bestehen darauf, dass es nicht möglich ist, von verschiedenen Arten zu sprechen. Sie gehen davon aus, dass es nur eine Erscheinungsform mit ähnlichen Wurzeln gibt. Andere Stimmen betonen jedoch mögliche Unterscheidungen.

1. Bürgerlich

Der Staat leitet seine Macht von den Bürgerinnen und Bürgern ab. Es ist der Wille des Volkes, der die Grundlage für die Identität eines Landes bildet. Beispiele dafür sind die Vereinigten Staaten oder Frankreich nach der Revolution.

2. Ethnisch

Darunter versteht man Länder, die sich mit einer einzigartigen und besonderen Ethnie identifizieren. In diesen Ländern gibt es ein gemeinsames Erbe, das von einer gemeinsamen Sprache bis zu einer gemeinsamen Abstammung reicht und manchmal als Rechtfertigung für das angebliche Recht auf Selbstbestimmung herangezogen wird.

3. Religiös

In diesem Fall handelt es sich um klassische Theokratien. Das heißt, es gibt Länder, in denen die Nation dieselbe Religion und dieselben Lehren hat, und das rechtfertigt die Gründung eines Staates, der auf diesen Lehren basiert.

4. Kulturell

Eigene kulturelle Traditionen, Überzeugungen, eine gemeinsame Geschichte… Kultureller Nationalismus bezeichnet soziale Phänomene, bei denen ein Land oder seine Institutionen durch eine gemeinsame Kultur definiert und identifiziert werden. Der Zionismus ist ein Beispiel dafür.

5. Staatlich

Der Faschismus ist ein deutliches Beispiel. Das sind Kontexte, in denen eine Person existiert, um zu einem gemeinsamen Ziel beizutragen, nämlich die Stärke und Identität ihres Landes zu erhalten.

Pro und Contra des Nationalismus

Martin Luther King sagte, dass der Nationalismus dem Internationalismus weichen muss, einer breiteren und vor allem integrativen Perspektive. Der Mann, der von einer besseren Welt träumte, war kein Verfechter dieser Denkweise. Eine Analyse der George Washington University macht auf einen Punkt aufmerksam, über den man nachdenken sollte.

Das Aufkommen des Nationalismus ist heute eine Tatsache: Diese Bewegungen spalten die Bevölkerung und verursachen mehr oder weniger heftige soziale Konflikte. Nationalismen haben jedoch nicht immer versucht, Demokratien zu zerstören und Kriege zu beginnen. Mahatma Gandhi und Nelson Mandela bezeichneten sich beispielsweise als Nationalisten. Wo liegen also die Grenzen und das Gleichgewicht?

Positive Aspekte

Die großen europäischen Bewegungen für Freiheit und Gerechtigkeit im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert dienten dazu, absolute Monarchien zu stürzen. Dies führte zu einer neuen Blüte von sozialen Rechten, moralischem Verständnis und Identitäten. Kanada zum Beispiel, mit dem Premierminister Justin Trudeau, ruft zu einer Form des Nationalismus auf, die auf gemeinsamen Werten und nicht auf ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Geschichte basiert.

Das Problem ist natürlich, dass nicht alle Nationalismen ein solches pro-soziales Verhalten fördern.

Negative Aspekte

Es ist nicht schwer abzuleiten, was nationalistisches Denken und Handeln mit sich bringt. Diejenigen, die eine einzige Identität verteidigen und anmahnen, rechtfertigen manchmal Gewalt als Mittel, um ihre Ideale, ihre radikalisierten Gedanken, ihre “Wahrheit” durchzusetzen. Viele unserer großen Tragödien als Menschheit sind im Nationalismus verwurzelt.

“Nationalismus ist immer eine Quelle von Spannungen, Konfrontation und Gewalt, und das schließt nicht aus, dass der Nationalismus sowohl mit Demokratie als auch mit Ausgrenzung spielt. Er ist und bleibt die große Herausforderung.”

Mario Vargas Llosa

Hände symbolisieren Internationalismus statt Nationalismus
Jenseits unserer Identitäten müssen wir uns an eines erinnern: Wir wohnen alle auf demselben Planeten.

Abschlussreflexion

Muslime, Christen oder Juden. Engländer, Libanesen, Portugiesen, Türken oder Amerikaner. Jenseits unserer Religionen oder Nationalitäten sind wir Menschen, die einen zerbrechlichen Planeten bewohnen. Inmitten unserer besonderen Unterschiede und Streitigkeiten vernachlässigen wir vielleicht globale Probleme und sollten den Transnationalismus fördern. Wie Carl Sagan einmal sagte: “Wir sind nur ein Staubkorn in einem Gas aus Sonnenlicht, es gibt keinen Grund, uns für mehr zu halten als andere.”

▶ Literaturempfehlung

  1. Wege aus einer kranken Gesellschaft. Eine sozialpsychologische Untersuchung, Erich Fromm, dtv 2003
  2. The Ethnic Phenomenon, Pierre van den Berghe, Praeger 1987

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