Moralische Entkopplung: Was ist das?

Wir alle lösen uns manchmal von unseren moralischen Standards: Auch eine moralische Person kann in bestimmten Situationen unmoralisch handeln, ohne sich schuldig zu fühlen.
Moralische Entkopplung: Was ist das?
Elena Sanz

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Elena Sanz.

Letzte Aktualisierung: 10. April 2023

Wir stützen uns auf moralische Werte und Regeln, die in der Gesellschaft oder einer bestimmten Gemeinschaft anerkannt und gültig sind, um ein friedliches und harmonisches Miteinander zu ermöglichen. Trotzdem halten wir uns nicht immer an das gesellschaftliche Wertesystem: Es gibt Situationen, in denen wir Normen überschreiten oder uns nicht den Erwartungen entsprechend verhalten. In diesem Fall sprechen wir von Moral Disengagement, was auf Deutsch moralische Entkopplung bedeutet.

Dieses Konzept wurde im Rahmen der sozialen kognitiven Theorie entwickelt. Wir versuchen normalerweise, uns an moralische Standards zu halten, da wir dadurch unseren Selbstwert stärken. Doch auch eine moralische Person kann in bestimmten Situationen unmoralisch handeln, ohne sich schuldig zu fühlen. Oft sind wir uns nicht bewusst, dass unser Verhalten schädlich ist. Manche Menschen haben eine stärkere Tendenz zur moralischen Entkopplung. Sie sind an bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen zu erkennen, die wir heute etwas genauer analysieren.

Moralische Entkopplung: Was ist das?

Wir sprechen nicht von einem Mangel an Moral, sondern von einer natürlichen Tendenz, uns in bestimmten Situationen von moralischen Standards zu lösen. Eine in der Zeitschrift Nature Human Behaviour veröffentlichte Studie zeigt, dass bereits Kleinkinder, die noch nicht sprechen können, jedoch antisoziales Verhalten beobachten, verstehen, dass dieses Verhalten moralisch verwerflich ist. Eine negative Beurteilung und die Bestrafung des unmoralischen Verhaltens scheint evolutionäre Vorteile zu haben und die menschliche Kooperation zu begünstigen.

Moralisches Verhalten ist ein Zeichen von Reife. In der Kindheit und Jugend ist das Gehirn noch nicht ausgereift und neigt zu impulsiven Reaktionen. Jungen Menschen tun sich schwerer dabei, die Folgen ihres Handelns abzuschätzen.

Außerdem haben Werte auch eine starke kulturelle Komponente. Was an einem Ort oder zu einem Zeitpunkt moralisch akzeptabel ist, gilt in anderen Kontexten als verwerflich. Moral entsteht auf der Grundlage von Erfahrungen und gesellschaftlichen Erwartungen. Doch selbst, wenn wir unsere eigene Werteskala haben und uns moralische Normen wichtig sind, können wir uns selektiv unmoralisch verhalten. Wir brechen manchmal Normen oder überschreiten moralische Standards, ohne uns schuldig zu fühlen oder uns zu schämen.

Untreue ist eine moralische Entkopplung: Mann nimmt seinen Ehering ab, um mit einer Frau zu flirten
Untreue ist ein Beispiel für moralische Entkopplung.

Anzeichen für moralische Entkopplung

Es war der amerikanische Psychologe Albert Bandura, der den psychologischen Prozess der moralischen Entkopplung zum ersten Mal beschrieb. Wir verwenden dafür verschiedene Mechanismen, die Ereignisse rationalisieren oder rechtfertigen und einen Perspektivenwechsel bewirken, der uns von der Verantwortung befreit. Beobachte folgende Merkmale, um die moralische Entkopplung zu erkennen.

Gewalt oder Lügen sind in bestimmten Zusammenhängen erlaubt

Ein Beispiel für moralische Entkopplung sind Lügen, die wir nutzen, um jemanden zu schützen oder zu verteidigen. In bestimmten Situationen können wir sogar Gewalt verteidigen.

Durch Vergleiche lassen sich Handlungen rechtfertigen

Wir wissen, dass bestimmte Verhaltensweisen inakzeptabel sind, rechtfertigen bestimmte Verhaltensweisen jedoch, in dem wir sie mit schlimmeren Situationen vergleichen. So kann unter anderem der Diebstahl eines Brotes bei Hunger gerechtfertigt werden, ein Banküberfall jedoch nicht. Jemanden zu beleidigen, ist nicht so schlimm, wie ihn zu verprügeln.

Unmoralisches Verhalten ist akzeptabel, wenn es niemandem schadet

Kleine Verstöße gegen moralische Standards werden toleriert, wenn die andere Person nichts davon weiß oder nicht zu Schaden kommt. So ist es beispielsweise akzeptabel, wenn du dir etwas von einem Freund ausleihst, ohne ihn zu fragen, solange du ihm damit keinen nennenswerten Schaden zufügst.

Manche Menschen verdienen es, schlecht behandelt zu werden

Wir glauben manchmal, dass bestimmte Menschen eine schlechte oder unfaire Behandlung verdient haben. Ein Beispiel dafür wäre ein Ehemann, der seiner Frau untreu ist, weil er glaubt, von ihr vernachlässigt zu werden; oder der Glaube, dass ein Krimineller kein Recht auf eine würdige Behandlung hat.

Der Übeltäter ist nicht immer schuld

In manchen Fällen verteidigen wir den Übeltäter. Dies kann beispielsweise bei aggressiven Kindern der Fall sein, für deren Verhalten wir die Eltern verantwortlich machen. Wenn eine Arbeitskraft von ihrem Vorgesetzten die Anweisung erhält, etwas moralisch Verwerfliches zu tun, entschuldigen wir sie, da sie dazu gedrängt wurde.

In einer Gruppe gibt es keine individuelle Verantwortung

Begeht eine Gruppe eine unmoralische Tat, übernimmt die Einzelperson keine individuelle Verantwortung. Wenn beispielsweise mehrere Jugendliche ein Auto mutwillig zerstören oder Mobbing betreiben, glauben sie, nicht persönlich dafür zu haften. Sie haben unter Gruppenzwang nachgegeben.

Manche unmoralischen Handlungen sind von geringer Bedeutung

Ein weiteres Merkmal für moralische Entkopplung ist zu glauben, dass bestimmte Handlungen harmlos sind, auch wenn sie gegen moralische Standards verstoßen. Ein geschmackloser Scherz oder Mobbing sind Beispiele dafür.

moralische Entkopplung: Kind schreit seinen Freund an
Wenn sich ein Kind schlecht verhält, führt die moralische Entkopplung dazu, dass wir die Eltern und die unangemessene Erziehung dafür verantwortlich machen.

Moralische Entkopplung

Wir alle lösen uns manchmal von unseren moralischen Standards oder versuchen, uns unserer Verantwortung zu entziehen. Wie anfangs bereits erwähnt, können moralische Menschen unmoralisch handeln. Dies wird dann zu einem Problem, wenn sich die Grenzen allmählich versetzen und unmoralisches Handeln zur Gewohnheit wird. Selbstkontrolle und Selbstdisziplin sind wichtige Voraussetzungen für prosoziales Verhalten und ein harmonisches Miteinander.


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