Was ist emotionale Granularität?
Die emotionalen Reaktionen sind sehr vielfältig: Manche erleben sie intensiv und in vielen Schattierungen, andere relativ unspezifisch oder gefühlskalt. So gibt es Menschen, die ihre Gefühle nach einem Verlust als “traurig, hilflos, quälend, freudlos und aufgebracht” beschreiben, andere wiederum bezeichnen ihren Zustand schlicht und einfach als “schlecht”. Die differenzierte Unterscheidung unserer emotionalen Zustände hilft uns, angemessener zu reagieren und einen gesunden Umgang mit unseren Gefühlen zu pflegen. Diese Fähigkeit nennt sich emotionale Granularität.
Der hohe Auflösungsgrad von Gefühlszuständen, das heißt beispielsweise die präzise Differenzierung zwischen Frustration, Ärger, Unmut oder Angst, vereinfacht dir die Definition und das Verständnis deiner Bedürfnisse. Der erste Schritt besteht darin, deine Emotionen genau zu benennen.
Emotionale Granularität
Der Ausdruck “Granularität” bezieht sich auf die Spezifität unserer Gefühle. Es geht um die Fähigkeit, Emotionen präzise und in Übereinstimmung mit dem Kontext, in dem sie auftauchen, zu erleben. Das bedeutet, dass die Präzision und Zuverlässigkeit des Ausdrucks die affektive Erfahrung kennzeichnen. Die Fähigkeit, die Emotionen und die darauffolgenden Reaktionen zu verstehen, kann die Lebensqualität verbessern. In diesem Zusammenhang sind Konstrukte wie emotionales Bewusstsein, emotionale Klarheit, emotionale Komplexität, Granularität und emotionale Intelligenz von Bedeutung.
Hohe vs. niedrige emotionale Granularität
Im Alltag kannst du den Grad der emotionalen Granularität anderer beobachten. Wenn du jemanden fragst, wie er sich fühlt, stellst du fest, dass manche Menschen sehr spezifische Worte benutzen: glücklich, vergnügt, begeistert, traurig oder wütend. Sie haben eine höhere emotionale Granularität, da sie in der Lage sind, ihre emotionale Erfahrung mit präzisen und differenzierten Wörtern auszudrücken.
Im Gegensatz dazu antworten andere Menschen auf dieselbe Frage sehr vage oder einfach mit “gut” oder “schlecht”. Diese Personen haben eine niedrige emotionale Granularität: Sie sind nicht fähig, ihre Emotionen zu konkretisieren und kennen nur “schwarz” oder “weiß”.
Die sprachliche Vielfalt oder Armut spiegelt die Genauigkeit wider, mit der emotionale Zustände identifiziert werden. Die Granularität ist jedoch nicht nur eine verbale Darstellung. Studien, welche die Aktivität der Neuronen analysiert haben, haben gezeigt, dass die Granularität über das Verbale, das Ausdrucksvermögen hinausgeht. Personen mit niedriger und hoher Granularität zeigen sehr unterschiedliche neuronale Aktivierungsmuster, da ihre Gehirne emotionale Erfahrungen auf unterschiedliche Weise repräsentieren.
Diese Forschung zeigt auch, dass Menschen mit hoher Granularität im Vergleich zu solchen mit niedriger die anhaltende Aufmerksamkeit und die exekutive Kontrolle nutzen, um auf konzeptuelles Wissen zuzugreifen, das es ihnen ermöglicht, emotionalen Reizen eine Bedeutung zuzuschreiben.
Die Mechanismen der emotionalen Granularität können also durch neuronale Prozesse erfasst werden, die über die eigentliche Emotionskennzeichnung hinausgehen. Diese Ergebnisse zeigen, dass die emotionale Granularität auch eine besondere Art des Erlebens von Emotionen darstellt (Tan et al., 2022).
Die emotionale Granularität und ihre Vorteile
Es gibt Hinweise darauf, dass eine hohe emotionale Granularität sehr vorteilhaft ist. Das differenziertere Erleben negativer Emotionen kann die psychische Gesundheit und das adaptive Coping verbessern (Kashdan et al., 2015; Smidt und Suvak, 2015).
Diese Komponente des emotionalen Erlebens wirkt sich auch positiv auf die Affektregulierung aus. Untersuchungen haben ergeben, dass die Differenzierung negativer Emotionen positiv mit der Emotionsregulierung zusammenhängt, vor allem wenn die Gefühle intensiver sind. Andererseits wird eine geringe Granularität mit einer schlechten Emotionsregulierungsstrategie in Verbindung gebracht.
Dieser Zusammenhang zwischen Granularität und Emotionsregulierung lässt sich auf die Gefühl-als-Information-Theorie von Norbert Schwarz zurückführen. Nach dieser Theorie ermöglicht die Differenzierung von Emotionen ein besseres Verständnis der Ursachen von Emotionen und erleichtert so deren Regulierung.
Die Granularität – insbesondere positiver Emotionen – kann in sozialen Beziehungen von Vorteil sein. Sie kann zu einem genaueren Verständnis des emotionalen Zustands anderer führen und die zwischenmenschliche Kommunikation erleichtern.
Die Ergebnisse einer Studie zeigen, dass Personen mit einer hohen emotionalen Differenzierung besser in der Lage sind, die Gesichtsausdrücke anderer zu kategorisieren und zu erkennen. Außerdem können diese Menschen die Emotionen ihrer Liebespartner besser einschätzen.
Wie man die Granularität kultiviert
Achtsamkeit ist eine Technik, die zur Entwicklung von emotionaler Granularität beitragen kann. Forschungen auf diesem Gebiet ergaben eine deutliche Verbesserung bei der Unterscheidung von positiven und negativen Emotionen.
Programme für emotionale Intelligenz können auch nützlich sein, um die emotionale Granularität zu kultivieren. Es hat sich gezeigt, dass das Training der emotionalen Intelligenz zu einer Verbesserung der Emotionserkennung und -differenzierung führt. Das liegt daran, dass diese Trainingsprogramme Aktivitäten zur Emotionsdifferenzierung beinhalten.
Sehr nützlich sind auch Interventionen, bei denen Menschen aufgefordert werden, zwischen positiven Emotionen zu unterscheiden und über die Funktion dieser Erfahrungen nachzudenken.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die emotionale Granularität eine Fähigkeit ist, die es uns ermöglicht, die Bandbreite der Erkennung sowie des Ausdrucks unserer emotionalen Erfahrungen zu erweitern und die Regulierung der Gefühle zu verbessern, die uns in bestimmten Situationen überwältigen. Durch diese Fähigkeit können wir genauer erkennen, was mit uns auf der Gefühlsebene passiert und unser zukünftiges Verhalten auf der Grundlage unserer Gefühle vorhersagen.
Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.
- Feldman, L, Gross, J., Christensen, T. C., & Benvenuto, M. (2001). Knowing what you’re feeling and knowing what to do about it: Mapping the relation between emotion differentiation and emotion regulation. Cognition & Emotion, 15(6), 713-724.
- Erbas, Y., Sels, L., Ceulemans, E., & Kuppens, P. (2016). Feeling me, feeling you: The relation between emotion differentiation and empathic accuracy. Social Psychological and Personality Science, 7(3), 240-247.
- Hoemann, K., Nielson, C., Yuen, A., Gurera, J. W., Quigley, K. S., & Barrett, L. F. (2021). Expertise in emotion: A scoping review and unifying framework for individual differences in the mental representation of emotional experience. Psychological Bulletin, 147(11), 1159.
- Israelashvili, J., Oosterwijk, S., Sauter, D., & Fischer, A. (2019). Knowing me, knowing you: emotion differentiation in oneself is associated with recognition of others’ emotions. Cognition and Emotion.
- Kalokerinos, E. K., Erbas, Y., Ceulemans, E., and Kuppens, P. (2019). Differentiate to regulate: Low negative emotion differentiation is associated with ineffective use but not selection of emotion-regulation strategies. Sci.30, 863–879.
- Kashdan, T. B., Barrett, L. F., & McKnight, P. E. (2015). Unpacking emotion differentiation: Transforming unpleasant experience by perceiving distinctions in negativity. Current Directions in Psychological Science, 24(1), 10-16.
- Lee, J. Y., Lindquist, K. A., & Nam, C. S. (2017). Emotional granularity effects on event-related brain potentials during affective picture processing. Frontiers in Human Neuroscience, 133.
- Nelis, D., Quoidbach, J., Mikolajczak, M., and Hansenne, M. (2009). Increasing emotional intelligence: (How) is it possible? Indiv. Diff.47, 36–41. doi: 10.1016/j.paid.2009.01.046
- Schwarz, N. (2012). “Feelings-as-information theory,” in Handbook of theories of social psychology, eds P. A. M. Van Lange, A. W. Kruglanski, and E. T. Higgins (New York, NY: Sage Publications Ltd), 289–308. doi: 10.4135/9781446249215.n15
- Shiota, M. N., Neufeld, S. L., Danvers, A. F., Sng, O., and Yee, C. I. (2014). Positive emotion differentiation: a functional approach. Personal. Psychol. Comp.8, 104–117. doi: 10.1111/spc3.12092
- Smidt, K. E., & Suvak, M. K. (2015). A brief, but nuanced, review of emotional granularity and emotion differentiation research. Current Opinion in Psychology, 3, 48-51.
- Suvak, M. K., Litz, B. T., Sloan, D. M., Zanarini, M. C., Barrett, L. F., & Hofmann, S. G. (2011). Emotional granularity and borderline personality disorder. Journal of abnormal psychology, 120(2), 414.
- Tan, T. Y., Wachsmuth, L., & Tugade, M. M. (2022). Emotional Nuance: Examining Positive Emotional Granularity and Well-Being. Frontiers in Psychology, 13.
- Van der Gucht, K., Dejonckheere, E., Erbas, Y., Takano, K., Vandemoortele, M., Maex, E., et al. (2019). An experience sampling study examining the potential impact of a mindfulness-based intervention on emotion differentiation. Emotion19, 123–131. doi: 10.1037/emo0000406