Warum sind wir unempfindlich gegenüber dem Leiden anderer?

Warum sind wir unempfindlich gegenüber dem Leiden anderer?
Gema Sánchez Cuevas

Geprüft und freigegeben von der Psychologe Gema Sánchez Cuevas.

Geschrieben von Edith Sánchez

Letzte Aktualisierung: 09. Juni 2023

Tiere, die in Gruppen unterwegs sind, haben die Fähigkeit, den Schmerz oder das Leiden ihrer Artgenossen zu empfinden. Ihre Solidarität ist Teil ihres genetischen Codes, weil sie eine Garantie für das Überleben der Art bietet. Im Tierreich bedeutet das zwar oft, dass derjenige, der nichts mehr beitragen kann, isoliert wird, aber das nimmt der Intuition der Tiere nicht Wert. Nun, wenn Tiere derart mitfühlen können, warum sind manche Menschen dann so unempfindlich gegenüber dem Leiden anderer? Wie verschließen sie sich emotional vor allem, was ihnen fremd ist? Was macht jemanden derart unsensibel?

Auf diese Fragen gibt es verschiedene Antworten. Die Ursachen für die Unempfindlichkeit reichen von der Existenz schwerwiegender Pathologien bis hin zu einem Zustand extremer Verletzlichkeit. Auch die Wege zur Unempfindlichkeit sind vielfältig und umfassen viele verschiedene Erscheinungsformen.

“Das Unmögliche zu begehren und das Unglück anderer nicht zu berücksichtigen, sind die beiden großen Krankheiten des Geistes und der Seele.”

Bías of Priene

Im Allgemeinen gilt Unempfindlichkeit nicht für alles und jeden. Es sei denn, der Mensch leidet an einer stark einschränkenden Geisteskrankheit. Der Grad der Gefühlskälte variiert, ebenso wie die Umstände, unter denen sie gezeigt wird. Mit anderen Worten, jemand kann völlig unempfindlich gegen das Leiden einiger sein, aber auch sehr empfindlich auf die Schmerzen anderer reagieren. Und diese Situation mag sich sogar umkehren, wenn die Umstände es erfordern.

Ursachen und Erscheinungsformen der Unempfindlichkeit

Wenn du auf einer belebten Straße wohnst, ist es wahrscheinlich, dass du ständig Lärm ausgesetzt bist. Wahrscheinlich stören dich diese Geräusche, wenn du hier einziehst. Aber nach einer Weile passiert genau das Gegenteil: Du hörst im Grunde genommen auf, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, und beginnst, ein Gefühl der Besorgnis zu verspüren, wenn völlige Stille herrscht. Du bist unempfindlich gegenüber dem Lärm geworden.

Wal unter einem kleinen Boot, vor dem ein Mensch geht

Etwas Ähnliches, aber nicht genau das Gleiche, passiert in der Welt der Emotionen. Menschen, die großes emotionales Leid erfahren haben, neigen dazu, einfühlsamer und sensibler für die Schmerzen anderer zu sein. Aber auch der gegenteilige Effekt kann eintreten. Vor allem, wenn die Schmerzen bestimmte Grenzen überschritten haben oder im Rahmen einer extremen Verletzlichkeit aufgetreten sind. Diese Menschen werden unsensibel.

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich beobachten, wenn jemand Bildern ausgesetzt ist, die Leid zeigen: Anfänglich erzeugen sie Mitleid und Trauer, aber der Zuschauer stumpft ab und wird unempfindlich. Wir alle unterliegen diesem Phänomen, das letzten Endes ebenfalls der Arterhaltung dient: Eine reale Gefahr, die uns nicht erreicht, erfordert irgendwann keine weitere Aufmerksamkeit, keine Ressourcen, die wir anderweitig einsetzen könnten, um unsere eigene Entwicklung voranzutreiben. Das lässt sich an den Reaktionen auf die aktuellen Nachrichten sehr gut nachvollziehen.

Gesicht eines Mannes mit Federn bedeckt

Wie kommt es aber dazu, dass Menschen, die nicht oder nur in begrenztem Umfang gelitten haben, unsensibel werden? Dem Leiden anderer keine emotionale Bedeutung, keinen Wert zuschreiben? Ihr Einfühlungsvermögen ist nicht entwickelt und sie zeigen eine Art affektiver Ignoranz. Ihre Unwissenheit hindert sie daran, Solidarität mit dem Leiden und auch der Freude anderer zu zeigen. Denn ihre erlernte Unempfindlichkeit beeinflusst nicht nur ihre Reaktion auf negative Emotionen.

Eine Person, die unempfindlich gegenüber dem Leiden anderer ist, kann diese Eigenschaft auf verschiedene Weise manifestieren. Unempfindlichkeit bedeutet nicht nur, sich gleichgültig gegenüber der Notlage eines anderen oder Hilfeersuchen zu zeigen. Sie umfasst auch jenes Verhalten, in dem ein anderer Mensch als Organismus, Werkzeug oder Mittel verstanden wird.

Wenn du sensibel und unsensibel zugleich bist

Es ist üblich, dass ein Mensch sensibel und unsensibel zugleich ist. Häufig zeigen auch jene Menschen Phasen der Unempfindlichkeit, die normalerweise einfühlsam und sensibel sind. Es gibt viele Faktoren, die zusammenwirken und dies verursachen. Wenn jemand große Trauer erlebt, wird er wahrscheinlich nur über wenig emotionale Energie verfügen. Er ist dann nicht in der Lage, sich um andere zu kümmern oder sich in sie einzufühlen.

Mann mit Lichtpunkten im Gesicht

Manche Menschen fürchten das reale Leiden. Ohne sich dessen bewusst zu sein, entwickeln sie Strategien, Mechanismen oder beschreiten Wege, um sich selbst zu desensibilisieren. Das geschieht zum Beispiel bei Suchterkrankungen. Der Konsum psychoaktiver Drogen baut eine Mauer der Unempfindlichkeit gegenüber dem Leiden anderer auf. Er erschafft eine Kammer, zu der niemand sonst Zutritt hat. Einen starren Charakter aufzubauen und zu pflegen ist ebenfalls eine Strategie, um unsensibel zu werden. Es ist ein Weg, um eine strenge Kontrolle über die eigenen Emotionen aufrechtzuerhalten.

Gegenüber einem Menschen empfindlich zu sein bedeutet, für alle empfindlich zu sein

Erich Fromm bekräftigte, dass Liebe und Solidarität, wenn sie echt seien, auch universell seien. Er sagte, wenn man einen Menschen liebe, liebe man auch die ganze Menschheit. Wenn man aus diesem Postulat eine Analogie ableitet, dann, dass eines unmöglich ist: Wir können nicht sensibel für das Leiden eines Menschen sein, ohne gleichzeitig sensibel zu sein für den Schmerz eines jeden.

Nicht empfangene Sensibilität kann uns beeinflussen. Doch die Person, die sicherlich betroffen sein wird, ist diejenige, die keine Sensibilität manifestiert. Die instinktive Neigung zur Solidarität ist keine Laune der Natur. Es gibt Informationen in unserem genetischen Code, die als Überlebensgarantie installiert wurden. Helfen und Hilfe erhalten ist eine der vielen Strategien, die das Leben – und damit auch wir – anwenden, um sich selbst zu verewigen.

Bauen wir Mauern ab, statt auf. Schauen wir hin, statt weg. Und konzentrieren wir uns auf das Menschsein, das uns alle auszeichnet.


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