Warum normalisieren wir das Weinen in der Öffentlichkeit nicht?

Warum empfinden wir Tränen als Zeichen von Schwäche und versuchen, sie vor anderen zu verbergen?
Warum normalisieren wir das Weinen in der Öffentlichkeit nicht?
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 01. Mai 2023

Weinen in der Öffentlichkeit, vor Bekannten oder völlig Fremden: Wann ist dir das zum letzten Mal passiert? Du erinnerst dich wahrscheinlich an diese Situation, denn es handelt sich um eine unangenehme Erfahrung. Wir sind nicht daran gewöhnt, tiefgehende Emotionen vor anderen auszudrücken.

Ausnahmen sind unter anderem Sportlerinnen und Sportler, die damit Freude, Frustration oder Traurigkeit in der Öffentlichkeit ausdrücken, ohne kritisiert zu werden. Doch in einer Geschäftsbesprechung vor Freude oder Kummer in Tränen auszubrechen, zeugt von Schwäche und Unausgeglichenheit. Die anderen könnten sogar denken, dass die Person ein psychisches Problem hat.

Weinen muss jedoch nicht auf eine Depression oder Angststörung zurückzuführen sein. Es handelt sich um eine sehr menschlichen, kathartischen emotionalen Ausdruck, der so natürlich wie das Atmen oder Schlafen ist. Trotzdem versuchen wir, Tränen in der Öffentlichkeit zu vermeiden.

Weinen in der Öffentlichkeit
Wenn du öffentlich weinst, wirst du als weniger kompetent wahrgenommen.

Warum Weinen in der Öffentlichkeit stigmatisiert wird

Weinen ist ein physiologischer Vorgang, der Emotionen wie Trauer, Angst, Hilflosigkeit oder Schmerz zum Ausdruck bringt. Obwohl Tränen sehr befreiend wirken, betrachten wir sie vielfach als Zeichen der Schwäche. Wir werden dazu erzogen, nur in der Privatsphäre zu weinen, oder am besten überhaupt nicht.

Wir dürfen nicht vergessen, dass Weinen im Laufe der Evolution vorteilhaft war, da es Empathie und prosoziales Verhalten weckt. Menschen, die weinen, benötigen Hilfe und TrostViele betrachten diese Situation jedoch als unangenehm oder unangebracht. Wir leben in einer individualistischen Welt, in der jeder seine Probleme selbst lösen muss. Deshalb glauben viele, dass Weinen nur auf die Privatsphäre begrenzt sein sollte.

Menschen, die in der Öffentlichkeit weinen, werden als schwach und unentschlossen abgestempelt. 

Halte deine Tränen zurück, um kompetent zu wirken (vor allem, wenn du ein Mann bist)

Vor allem für Männer ist Weinen in der Öffentlichkeit ein Tabu, dies bestätigt unter anderem eine Studie der Universität Tilburg. Wir glauben, dass diese Menschen zu emotional und wenig kompetent sind. In vielen Situationen ist das nicht angebracht. Außerdem haben viele die vorgefestigte Meinung, dass es diesen Personen an Verantwortungsbewusstsein und Selbstkontrolle mangelt.

Weinen in der Öffentlichkeit wird immer noch falsch interpretiert

Wenn eine Person vor anderen in Tränen ausbricht, kommt es fast immer zur gleichen Reaktion: Es gilt, die Person zu beruhigen, fast so als ob sie ihren Verstand verloren hätte. Viele glauben, dass sie einen “Reset” benötigt wie ein Computer, um wieder zur Ruhe zu kommen.

Die weinende Person versucht allerdings, ihren Gefühlen Luft zu machen. Sie braucht Zeit, um sich wieder zu fassen. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass Tränen keine Gefahr sind, sondern der betroffenen Person helfen, die Situation zu überwinden und wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

Die gesellschaftliche Ablehnung dieses Verhaltens führt jedoch dazu, dass wir die Situation als “Zusammenbruch” interpretieren, als “Schwäche” und “Instabilität”, was jedoch keinesfalls zu rechtfertigen ist.

Weinen ist kein Akt der Schwäche und keine bedauerliche Reaktion. Der Fehler liegt nicht bei der weinenden Person, sondern bei denen, die Weinen weiterhin als Ausdruck von Instabilität interpretieren und es verurteilen.

Warum ist vielen Weinen in der Öffentlichkeit peinlich?
Weinen ist ein ganz normaler und notwendiger physiologischer Vorgang.

Emotionales Weinen akzeptieren

Die große Mehrheit von uns ist empathisch und wenn wir jemanden weinen sehen, fühlen wir uns unwohl. Das liegt daran, dass wir wollen, dass es allen gut geht, dass alle um uns herum glücklich, ruhig und zufrieden sind.

Wir haben jedoch voreingenommene Vorstellungen, die wir bereits in der Kindheit von unseren Vorbildern übernehmen. Es ist allerdings an der Zeit, mit diesen Vorurteilen Schluss zu machen und emotionales Weinen, das eine wichtige Funktion erfüllt, zu akzeptieren.

Tränen fördern die soziale Kommunikation

Weinen fördert die Kommunikation innerhalb einer Gruppe. Es geht deshalb nicht darum, die weinende Person möglichst schnell zu beruhigen, sondern die Ursachen zu analysieren. Ein einfühlsamer Dialog ist in dieser Situation sehr hilfreich und verbessert die Bindung zu anderen Menschen.

Weinen macht uns nicht schwach, sondern authentisch

Wir bemühen uns oft, unser Leid vor anderen zu verbergen, indem wir uns eine Maske aufsetzen und mit einem oberflächlichen “es geht mir gut” antworten. Während viele ihr Glück nach außen vortäuschen, zerbrechen sie innerlich. Doch es gibt auch Menschen, die sich ehrlich durch Weinen ausdrücken, das zeugt nicht von Schwäche, sondern von Authentizität und Aufrichtigkeit.

Trotzdem schämen sich viele und haben Angst davor, verurteilt zu werden. Würden wir das Weinen in der Öffentlichkeit normalisieren, wäre es sicher viel einfacher, mit leidvollen Situationen umzugehen. Schließlich handelt es sich um eine sehr menschliche und wohltuende Reaktion.

Nicht jene Menschen sind die stärksten, die am meisten aushalten, sondern jene, die ihre Emotionen akzeptieren und zum Ausdruck bringen. 


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