Unterdrückte oder verzögerte Trauer: wenn der Kummer chronisch wird
Unterdrückte oder verzögerte Trauer entsteht, wenn wir den Verlust eines geliebten Menschen einfach nicht verkraften können. Dann wird die Trauer chronisch und zu unserem ständigen Begleiter. Dabei äußert sich dieses Leiden auf unterschiedliche Weise. Es kann sein, dass du Angststörungen bekommst oder unter Stress, Erschöpfung, Teilnahmslosigkeit oder permanenter Reizbarkeit leidest. Hierbei handelt es sich um eine sehr verbreitete klinische Realität.
Viele Menschen wissen nicht, wie sie mit derartig schmerzhaften Gefühlen umgehen sollen. Intensive Trauer und das damit verbundene Leiden kann einen Menschen regelrecht lähmen. Das Gefühl der Leere kann es sehr schwer machen, das tägliche Leben zu bewältigen.
Andere Menschen wiederum konzentrieren sich mit aller Kraft auf ihre täglichen Routinen. Dabei laden sie sich jede Menge Arbeit und Verpflichtungen auf, nur um sich so davon zu überzeugen, dass es weiter geht und sie die Situation meistern können. Außerdem wollen sie sich selber einreden, dass alles in Ordnung sei und versuchen, ihren Schmerz und ihre Trauer zu verbergen und verschließen ihn ganz tief in ihrem Inneren.
Beide Fälle führen zu einem Leiden, das sich auf die gleiche Weise äußert. Es handelt sich um eine pathologische Trauer, bei der weder der Verlust akzeptiert noch die Trauerarbeit abgeschlossen wurde. Dabei solltest du verstehen, dass Schmerz kein Verfallsdatum hat. Er kann für Jahrzehnte anhalten und sich langsam in jedem Gedanken, den du hast, festsetzen und dich bei allem, was du tust, begleiten. Verzögerte Trauer kann sich hinter einer Vielzahl von Erkrankungen verbergen. Sie kann letztendlich auch deine Chancen zunichte machen, jemals wieder ein glückliches Leben zu führen.
“Durch Weinen kannst du die Schwere der Trauer lindern.”
-William Shakespeare-
Was ist unterdrückte oder verzögerte Trauer?
Schmerz kann erstarren oder permanent eingeschlossen sein, wie ein Samenkorn in einem Bernstein. Genau das passiert, wenn du dich nicht ausreichend mit einer schmerzhaften Realität auseinandersetzt. Dies kann auch passieren, wenn du dir selber sagst, dass es besser sei, dieses Thema wegzuschieben und dich stattdessen lieber auf dein Leben zu konzentrieren. Dadurch musst du dann nicht mehr so oft an den Menschen denken, den du verloren hast.
Wenn Trauerexperten etwas ganz genau wissen, dann ist es die Tatsache, dass jeder von uns Trauer auf ganz verschiedene Art und Weise erlebt. Grundsätzlich verbinden die meisten Menschen mit dem Verlust eines geliebten Menschen Traurigkeit und Trauer. Experten sagen, dass es durchschnittlich ein bis eineinhalb Jahre dauert, bis wir einen Verlust überwunden haben und die Trauerphase abgeschlossen ist.
Allerdings sind diese Aussagen nicht ganz korrekt. Wenn du jemanden verlierst, dann empfindest du unmittelbar nach dem Verlust mehr als nur Traurigkeit. Gefühle wie Wut, Verwirrung oder sogar Ängste können entstehen. Daher hat das Erleben der Trauer direkt mit der Persönlichkeit des Menschen zu tun, der unter ihr leidet. Darüber hinaus spielen die persönlichen Ressourcen und auch die Unterstützung, die das persönliche und soziale Umfeld bietet, eine wichtige Rolle.
In einer Studie, die Dr. Katherine Shear von der Columbia Universität in New York durchgeführt hat, wurde festgestellt, dass es sehr schwer vorhersehbar ist, wie eine bestimmte Person auf den Verlust eines geliebten Menschen reagieren wird. Außerdem ergab die Studie, dass schätzungsweise 5% der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens an unterdrückter oder verzögerter Trauer leiden werden. Diesen Prozess wollen wir dir nun genauer erläutern.
Unterdrückte oder verzögerte Trauer: Symptome
Unterdrückte oder verzögerte Trauer ist ein Abwehrmechanismus. Die betroffene Person weigert sich, zu akzeptieren, dass sie diesen Menschen verloren hat. Sie kann sich dieser Realität einfach nicht stellen. Außerdem fühlen sich diese Menschen nicht in der Lage, mit diesem tiefen Schmerz umzugehen. Daher entscheidet sich das Gehirn dann dazu, dieses Gefühl ganz einfach zu ignorieren oder es zu verdrängen.
Obwohl dies zunächst nach einer guten Lösung aussehen mag, führt die damit verbundene psychische Belastung und emotionale Verdrängung zu einigen schwerwiegenden Konsequenzen:
- Angststörungen und übermäßiger Stress.
- Die betroffenen Menschen reagieren übersensibel. Dabei messen sie unerwarteten oder zufälligen Vorkommnissen in ihrem Leben eine übermäßig große Bedeutung zu.
- Außerdem kann diese Art der Trauer zu Essstörungen oder der Entstehung von Suchterkrankungen führen.
- Darüber hinaus weigern sich diese Menschen, über den Verlust des geliebten Menschen zu sprechen oder die damit verbundenen Gefühle in Worte zu fassen.
- Auch psychosomatische Symptome können sich manifestieren. Dazu gehören unter anderem Verdauungsbeschwerden, Allergien, Migräne, Muskelschmerzen, Hauterkrankungen und Haarausfall.
- Es kann passieren, dass du Probleme damit hast, eine klare Vision zu entwickeln oder Zukunftspläne zu schmieden. Menschen, die ihre Trauer unterdrückt oder verdrängt haben, hören oft damit auf, Lebenspläne zu entwerfen oder sich Ziele zu setzen.
- Außerdem können auch soziale Probleme entstehen. Wenn du deine Lebensfreude oder deine Geduld verlierst oder auch kein Bedürfnis mehr verspürst, dein Leben mit anderen zu teilen, dann wird sich das auf dein soziales Leben auswirken. Häufig verlieren die Betroffenen das Interesse oder die Freude an Unternehmungen, die ihnen bisher viel Spaß gemacht haben. Auch das Einfühlungsvermögen leidet darunter. Wenn du deinen eigenen Schmerz nicht akzeptieren kannst, dann fällt es dir zunehmend schwerer, diesen bei anderen Menschen wahrzunehmen oder Verständnis für ihre Empfindungen aufzubringen.
Wie kannst du unterdrückte oder verzögerte Trauer bearbeiten?
Diejenigen, die mit unterdrückter Trauer leben, sollten sich darüber bewusst sein, dass diese emotionale Last, die sie in sich tragen, früher oder später an die Oberfläche kommen wird. Manchmal genügt ein kleiner Auslöser und unzählige negative Emotionen entstehen. Dies kann dich an deine Grenzen bringen. Vielleicht ist es der Tod eines Haustieres, die Erkrankung eines Freundes oder nur ein kleiner unbedeutender Rückschlag, der in dir eine Flut von Emotionen auslöst, die du kaum bewältigen kannst.
In der fünften Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) existiert kein Eintrag über “verzögerte Trauer”. Allerdings enthält es diagnostische Kriterien für eine “persistierende komplexe Trauer-Störung”. Da Experten inzwischen die Existenz einer pathologischen Trauer anerkannt haben, wurden in den vergangenen Jahren neue Therapieformen entwickelt, um diese Störung zu behandeln. Einige dieser Methoden haben sich als sehr effektiv erwiesen.
Ein Beispiel ist die Therapie, die von Dr. Julie Wetherell von der Universität Kalifornien, San Diego, im Rahmen einer Studie im Jahr 2012 vorgestellt wurde. In dieser Studie geht es um eine Therapie, die kognitive Verhaltenstherapie mit interpersoneller Psychotherapie und ausgedehnten Konfrontationstechniken kombiniert. Dabei wird im Wesentlichen das Ziel verfolgt, dem Patienten bei der Akzeptanz des Verlustes zu helfen und an seinen Emotionen zu arbeiten. Besonderer Fokus wird dabei auf eine Emotion gelegt, die in vielen Fällen auftritt: Schuldgefühle.
Einen Verlust erfahren
Zusammenfassend können wir sagen, dass niemand auf einen schweren Verlust vorbereitet ist. Trauer ist weder ein universeller noch ein normativer Prozess. Es ist vielmehr ein dynamischer Prozess, der sehr schmerzhaft, kompliziert und langwierig sein kann und außerdem auch zu psychischen Problemen führen kann. Wenn du bereit dazu bist, andere um Hilfe zu bitten (und diese dann auch anzunehmen), dann wirst du mit dieser schweren Situation besser und gesünder umgehen und deine Trauer besser verarbeiten können.
Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.
- Shear, M. K., & Mulhare, E. (2009). Complicated Grief. Psychiatric Annals, 38(10), 662–670. https://doi.org/10.3928/00485713-20081001-10