Spiritual Bypassing: Wenn die Selbstfindung zur Selbstvermeidung wird
Psychische Belastungen und Erkrankungen haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen und sind durch Krisen wie die Corona-Pandemie, den Krieg in der Ukraine oder die wirtschaftliche Entwicklung und Existenzängste sogar noch weiter sprunghaft angestiegen. Nicht alle suchen bei seelischen Problemen sofort professionelle Unterstützung. Viele probieren zunächst verschiedenste Ansätze zur Selbsthilfe aus. Das kann helfen oder zu Spiritual Bypassing und anderen Problemen führen.
Was ist Spiritual Bypassing?
Der Weg, um negative Gedanken hinter sich zu lassen oder andere Probleme zu bewältigen, beginnt oft mit der Lektüre von Ratgebern oder Onlinetipps. Sie bieten Ansätze oder konkrete Anleitungen zur Selbsthilfe. Diese können – zumindest für eine gewisse Zeit – tatsächlich funktionieren. Denn auf andere, fundierte Hilfe durch Psychotherapeutinnen oder -therapeuten mussten Betroffene 2022 teilweise bis zu neun Monate warten. Doch die Selbsthilfe birgt auch Gefahren wie das Spiritual Bypassing – eine psychische Vermeidungsstrategie, um sich von innerseelischen oder zwischenmenschlichen Konflikten abzulenken, mit dem Versuch, diese somit zu umgehen.
In der Herzchirurgie haben Bypässe schon viele Leben gerettet, weil sie verstopfte Gefäße effektiv umgehen können. Im Blutkreislauf verschwindet dadurch die Blockade. Auf der psychischen Ebene funktioniert ein Bypass durch die verschiedensten Techniken zur Selbsthilfe nicht ansatzweise so effizient. Das Problem, ob altes Trauma oder beginnende Depression, bleibt bestehen und es kann sogar noch zusätzliche Dimensionen gewinnen – beispielsweise:
- Unterdrückung von Emotionen
- Sucht nach immer neuen Praktiken zur Selbsthilfe
- Blindes Vertrauen in Praktiken oder pseudo-spirituelle Ratgeber:innen oder Gurus
- Soziale Isolation
Der amerikanische Psychologe, Psychotherapeut und Autor John Welwood wies erstmals auf diese Gefahr hin und prägte den Begriff des Spiritual Bypassing.
Zwischen echtem Fortschritt und Spiritual Bypassing
Die Vermeidungstheorie des Psychiaters Thomas Borkovec unterstreicht das grundsätzliche Problem noch einmal unter anderen Aspekten. Typische Merkmale von Selbsthilfetechniken mit dem Vermeiden von Negativem und gleichzeitig einer Überbetonung von Positivem können nur ansatzweise oder kurzfristig funktionieren, weil sie einerseits tiefe Probleme nicht lösen und auf Unvorhergesehenes keine Antworten bereithalten.
Das eigene Selbst muss tiefer erforscht werden, um Problemen und Lösungen wirklich näherzukommen. Dabei hilft, zumindest wenn es lebenspraktisch sein soll, erst die Psychotherapie. Sie vermeidet nicht und sie sucht keine Umleitungen, sondern arbeitet ursächliche negative Erlebnisse auf oder erforscht die Verhaltensweisen und respektiert dabei die Gefühlswelt einer Persönlichkeit, um echte Fortschritte und Selbstwirksamkeit zu erreichen, meint Saida Thenhart, die sich in ihrer Praxis für Psychotherapie mehr und mehr auch mit dem Phänomen des Spiritual Bypassing auseinandersetzen muss. Sie meint weiter:
Spiritualität und Religion können helfen Antworten zu finden, die das Leben an manchen Stellen gefühlt erträglicher oder begreifbarer machen. Leben müssen wir dennoch hier und heute in der realen Welt. Spiritualität ist wenig wert, wenn wir es nicht schaffen, sie in unsere Lebenswirklichkeit zu integrieren. Spiritualität sollte dem gelebten Leben dienen – das gelebte Leben sollte sich nicht mehr und mehr auf die Spiritualität verlagern.
Der erste Schritt…
Anders als bei einer “unfreiwilligen Therapie” bedeutet allein die eigene Initiative für eine solche Therapie den ersten Schritt in Richtung Besserung der Lebenssituation. Für Saida Thenhart trägt jede oder jeder das Potenzial für genau diese Eigeninitiative und die Ressourcen für positive Veränderungen in sich.
Dieses Potenzial und diese Ressourcen fördert sie aktiv und gemeinsam als Team mit ihren Klient:innen. So zeigt sie eine konstruktive Alternative für nachhaltige Lösungen. Aber wann ist eine solche Psychotherapie sinnvoll oder gar notwendig? Die erfahrene Heilpraktikerin für Psychotherapie definiert eine klare Schwelle: Schränken Gedanken oder Gefühle, ein bestimmtes Verhalten den Lebensalltag ein oder belasten das Verhältnis zu Mitmenschen, kann eine Psychotherapie helfen.
Weitere Anzeichen für den Bedarf einer Psychotherapie:
- Das allgemeine Gefühl der Hilflosigkeit oder Überforderung durch bestimmte Themen,
- ungesunde Bewältigungsstrategien wie beispielsweise Suchtverhalten oder Zwänge,
- belastende Verhaltensmuster, um mit emotionalen Herausforderungen umzugehen,
- das Erleben eines Schocktraumas oder die Vermutung, unter den Folgen anderer Traumata zu leiden,
- die Lebensqualität wird z.B. durch Ängste oder Depression zusehends mehr beeinträchtigt,
- das Scheitern, verschiedener bisher ergriffener Selbsthilfemaßnahmen inklusive Spirital Bypassing,
- oder wenn soziale Beziehungen als problematisch empfunden werden oder nicht gelingen.
Beobachtest du diese oder ähnliche Anzeichen bei dir? Dann ist es an der Zeit, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Diese kann dir auf vertrauensvolle und professionelle Weise vermitteln, wie du langfristig positiven Einfluss auf deine Emotionen und deine Psyche nehmen kannst. In einer Psychotherapie kannst du wichtige psychosoziale Lebenskompetenzen aufbauen und deine Fähigkeiten stärken, um wieder ein glückliches, selbstbestimmtes Leben führen zu können.