Selbstkomplexität: "Du bist so kompliziert!"

Wenn dich andere als "komplizierte oder komplexe Persönlichkeit" beschreiben, zeichnest du dich vielleicht durch eine hohe Selbstkomplexität aus. Ist dies der Fall, solltest du stolz auf dieses Kompliment sein.
Selbstkomplexität: "Du bist so kompliziert!"
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 06. November 2022

Musstest du dir schon öfter sagen lassen: “Du bist so kompliziert!” Vielleicht atmest du tief durch und bevorzugst es, zu schweigen, anstatt auf diese Aussage zu antworten. Du verzichtest darauf, dich in sinnlosen Streitereien zu verfangen, denn du bist stolz auf deine Selbstkomplexität.

Patricia W. Linville formulierte diesen Begriff, der ein multimodales, komplexes Selbst definiert. Menschen mit einem hohen Grad an Selbstkomplexität entwickeln diverse und vielseitige Aspekte ihrer Persönlichkeit, die nicht immer widerspruchsfrei sind. Sie zeichnen sich durch eine Vielzahl an voneinander unabhängigen Selbstaspekten aus.

Die Bezeichnung “Selbstaspekt” bezieht sich auf die Selbstrepräsentation und umfasst jede Rolle, Aktivität, Beziehung, Eigenschaft oder Gruppenzugehörigkeit einer Person. Menschen mit einer großen Anzahl unabhängiger Selbstaspekte weisen eine hohe Selbstkomplexität auf. 

Diese Personen erscheinen oft kompliziert, doch sie zeichnen sich durch ein breites Spektrum an Interessen, Leidenschaften und Werten aus, die zwar widersprüchlich sein können, jedoch trotzdem stimmig sind. “Du bist so kompliziert!” könnte in diesem Zusammenhang also als Kompliment aufgefasst werden, denn diese Aussage beschreibt vielseitig interessierte, komplexe und vielschichtige Menschen, die auf Herausforderungen in der Regel positiv reagieren und kontrollierte Entscheidungen treffen. 

Komplexität ist ein Merkmal des Lebens selbst, das oft chaotisch, überschwänglich, aufregend und unvorhersehbar ist.

Mann mit hohem Grad an Selbstkomplexität
Die hohe Selbstkomplexität ist ein Spiegelbild vielfältiger Interessen und Kompetenzen.

Hohe Selbstkomplexität: Tugend oder Laster?

Wenn es anderen schwerfällt, dich zu verstehen, oder wenn du in bestimmten Situationen nicht wie erwartet reagierst, können deine Mitmenschen den Eindruck haben, dass du eine “komplizierte Person” bist. Du bist nicht vorhersehbar, hast jedoch vielseitige Interessen und reagierst vielleicht widersprüchlich, was andere nerven kann. Schlichte, durchschaubare Persönlichkeiten lösen weniger Unsicherheit aus, der Umgang mit ihnen ist einfacher.

Menschen mit einer hohen Selbstkomplexität interessieren sich vielseitig und sind energiegeladen. Sie nehmen an verschiedensten Projekten teil, sind jedoch auch fähig, sich in ihrer gewählten Einsamkeit wohlzufühlen. Diese Personen sind heute von einer bestimmten Idee begeistert, entdecken jedoch morgen neue Möglichkeiten.

“Der einfachste Mensch ist immer noch ein sehr kompliziertes Wesen.”

Selbstkomplexität hat viele Vorteile

Patricia Linville, Professorin an der Duke University, erforscht dieses Persönlichkeitsmerkmal seit Jahrzehnten. 1985 veröffentlichte sie eine Studie mit ihrem Modell der Selbstkomplexität, da sehr aufschlussreich ist: Je mehr Eigenschaften, Facetten und Dimensionen das Selbst hat, desto besser kann es die Auswirkungen von Stress bewältigen.

Wer verschiedene Gegensätze in sich vereint, die oft als widersprüchlich wahrgenommen werden, jedoch trotzdem stimmig sind, hat viele Vorteile. Manche Menschen sind sportlich und gleichzeitig bequem, sie sind in der Öffentlichkeit introvertiert, doch im Privaten extrovertiert, gleichzeitig sind sie sehr neugierig und schüchtern, lieben die Natur, jedoch auch die städtische Kultur… Die Forschung zeigt, dass diese Menschen nicht nur besser mit Stress, sondern auch mit dem Leben im Allgemeinen umgehen können. 

Menschen mit einer hohen Selbstkomplexität sind offen, flexibel und in der Lage, vielseitige Perspektiven zu betrachten. Dies hilft ihnen, mit ihren Ressourcen und auch mit Schwierigkeiten besser umzugehen.

“Du bist so kompliziert!”

Trifft diese Beschreibung auch auf dich zu? Bist du in deinem Beruf flexibel und legst Wert auf Weiterbildung und neue Erfahrungen? Hast du zahlreiche Hobbys und Interessen in verschiedensten Bereichen? Du bist vielleicht chaotisch, jedoch vielseitig begabt, unberechenbar, unvorhersehbar und vielschichtig?

Menschen mit einer hohen Selbstkomplexität zeichnen sich durch psychologischen Reichtum aus und wissen, ihre Ressourcen zu nutzen. Eine Studie zeigte, dass eine geringe Selbstkomplexität mit mehr Misserfolgen im Leben einhergeht. Facettenreiche Personen sind jedoch besser in der Lage, mit Herausforderungen umzugehen.

 Menschen mit hoher Selbstkomplexität sind facettenreich, unvorhersehbar und vielschichtig.

Frau mit hoher Selbstkomplexität
Eine hohe Selbstkomplexität ermöglicht den besseren Umgang mit herausfordernden Situationen.

Sei stolz auf deine Selbstkomplexität 

Wir haben alle unterschiedliche Talente und Eigenschaften und sind auch in der Lage, diese zu fördern und zu verbessern. Die Selbstkomplexität hat auf jeden Fall verschiedene Vorteile, auf die du stolz sein solltest. Wenn dich jemand als “zu kompliziert” bezeichnet, musst du dieser Person vielleicht Zeit geben, um dein wahres Selbst zu entdecken. Mit deiner komplexen Persönlichkeit bist du in der Lage, andere mit deiner Leidenschaft, Neugierde und deinen Interessen zu begeistern und anzustecken.


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  • Dixon, T. M., & Baumeister, R. F. (1991). Escaping the self: The moderating effect of self-complexity. Personality and Social Psychology Bulletin, 17, 363-368.
  • Linville, P. W. (1985). Self-complexity and affective extremity: Don’t put all of your eggs in one cognitive basket. Social Cognition, 3, 94-120.
  • Linville, P. W. (1987). Self-complexity as a cognitive buffer against stress-related depression and illness. Journal of Personality and Social Psychology, 52, 663-676.
  • Linville, P. W., & Carlston, D. E. (1994). Social cognition of the self. In P. G. Devine, D. L. Hamilton, & T. M. Ostrom (Eds.), Social cognition: Its impact on social psychology (pp. 143-193). New York: Academic Press.

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