Schüchternheit: Warum möchtest du unsichtbar sein?
Die Schüchternheit ist meistens bereits in der Kindheit zu beobachten: Es gibt Kinder, die im Kontakt mit anderen Personen Angst oder Unbehagen empfinden, und sich deshalb in ihr Schneckenhaus verkriechen. Andere wiederum stehen gerne im Mittelpunkt und setzen sich sogar in Szene, um Aufmerksamkeit zu erhalten.
Schüchternheit ist jedoch keine Krankheit, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, das unterschiedliche Ausmaße annehmen kann. Manche Menschen sind zwar schüchtern, bewegen sich im Alltag jedoch trotzdem problemlos, andere hingegen erleben diese Dimension so intensiv, dass ihr Leben stark eingeschränkt wird.
Das Leid, das durch diese extreme Schüchternheit entsteht, unterscheidet diese Menschen von Introvertierten. Sie haben Angst vor Ablehnung, Bloßstellung oder davor, sich vor anderen lächerlich zu machen. Sie wünschen sich den Kontakt zu anderen, fürchten sich jedoch gleichzeitig davor. Introvertierte Menschen hingegen ziehen sich oft freiwillig zurück, da sie Zeit für sich benötigen. Sie sind durch eine innere Ausrichtung gekennzeichnet und konzentrieren sich gerne auf ihre Gedanken und Beobachtungen. Nach sozialen Kontakten brauchen sie oft Ruhe, um neue Energie zu tanken.
Die Welt scheint den Extrovertierten zu gehören, die keine Ängste haben, Kontakte zu knüpfen und sich trauen, laut zu sprechen. Extrovertierte zeichnen sich durch ein starkes Selbstbewusstsein aus und sind bereit, sich Herausforderungen zu stellen. Doch warum gibt es Menschen, die am liebsten unsichtbar wären? Woher kommt diese einschränkende Schüchternheit?
“Viele Menschen sind in sich selbst verschlossen wie eine Schachtel, aber sie würden sich öffnen und sich wunderbar entwickeln, wenn du dich für sie interessierst.”
Sylvia Plath
Schüchterne Bäume und ihre Wurzeln
Schüchternheit führt zu Verlegenheit und Unsicherheit, deshalb beobachten schüchterne Menschen das Leben oft durch das Fenster aus einer sicheren Entfernung.
In Costa Rica, Malaysia und anderen Regionen können wir schüchterne Bäume beobachten: Diese berühren sich nicht und bilden ein geometrisches Muster, wenn wir ihre Baumkronen von unten betrachten. Die Distanz zwischen den Bäumen beträgt jedoch 10 bis 50 cm. Forscher sprechen von “crown shyness” (dt. Kronenscheu), wobei die genauen Ursachen für diese “Schüchternheit” noch nicht ausreichend erforscht sind. Vielleicht geht es darum, Krankheiten zu vermeiden, mehr Licht durchzulassen oder die Reibung bei Wind zu vermeiden.
Doch wie schaut es bei uns Menschen aus? Sind wir auch wie diese schüchternen Bäume vorprogrammiert? Wir alle müssen uns im Leben gewissen Ängsten oder Ablehnung stellen. Aber warum leiden manche Menschen daran und bevorzugen Distanz wie die beschriebenen tropischen Bäume, während andere täglich den Mut beweisen, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen?
Der Introvertierte fühlt sich wohl in seiner Haut, mag seine Persönlichkeit und knüpft, wenn er will, ohne Probleme Kontakte. Der schüchterne Mensch hingegen möchte sich in sozialen Situationen wohler fühlen und Scham und Unsicherheit ablegen.
1. Genetik oder Umwelt?
Ein großer Teil der Bevölkerung glaubt, dass schüchterne Kinder mit diesem gehemmten Temperament auf die Welt kommen. Das ist jedoch nicht ganz richtig. Ein Großteil der Forschung zu diesem Persönlichkeitsmerkmal stammt aus der Untersuchung von eineiigen Zwillingen.
Die Universität Colorado in Boulder beispielsweise hat 2012 eine bemerkenswerte Arbeit zu diesem Thema durchgeführt. Wir wissen, dass Schüchternheit tatsächlich einen genetischen Auslöser hat, aber diese Variable ist weder schlüssig noch zu 100 % sicher. Denn den Forschern zufolge ist die Umwelt wichtiger als die Gene, wenn es darum geht, ein schüchternes und gehemmtes Persönlichkeitsmuster zu entwickeln. Eineiige Zwillinge können unterschiedliche Charaktere entwickeln.
Im Alter von 18-20 Monaten beginnen Kinder damit, soziale Normen zu verstehen. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Kinder die Grenze überschreiten, die sie entweder selbstbewusster macht oder sie in den Bereich der Schüchternheit versetzt. Die ersten Erfahrungen, die wir ab dem zweiten Lebensjahr mit unserem sozialen Umfeld machen, prägen einen Großteil unseres Charakters.
2. Bezugspersonen haben Einfluss auf die Entwicklung von Schüchternheit
Schüchterne Menschen müssen auf ihre Kindheit zurückblicken, in der sie das psychosoziale Substrat für ihre persönliche Entwicklung finden. Hier befinden sich die Wurzeln der s chüchternen Bäume. Wie war die Dynamik im Elternhaus? Haben sich die Bezugspersonen um ein offenes, unterstützendes und sicheres soziales Umfeld gekümmert? Auch wenn ein Kind genetisch schüchtern ist, kann es seine Schüchternheit überwinden, wenn das Umfeld stimmt.
Wächst es hingegen in einer autoritären, kritischen, gefühllosen und strengen Familie auf, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich diese Schüchternheit in dem Kind festsetzt und dieses bis ins Erwachsenenalter begleitet. Wenn die Eltern ihr Kind entsprechend unterstützen, kann es Ängste rationalisieren und abbauen, um sich bei sozialen Kontakten nicht schlecht zu fühlen.
Eine einfühlsame, sichere, anregende und geschickte Erziehung und Bildung, die dem Kind ein gutes Selbstwertgefühl vermittelt, kann die Entwicklung von Schüchternheit und das vorhandene Schüchternheitsgen abfedern.
3. Verinnerlichung und übermäßige Angst
Neben den Genen und dem familiären Umfeld gibt es noch ein drittes Element, das die Wurzeln der Schüchternheit nährt: die übermäßige Angst. Forschungsarbeiten wie die von Dr. Nancy Eisenberg zeigen, dass diese Persönlichkeit mit einer Verinnerlichung negativer Emotionen korreliert. Diese Angst manifestiert und verstärkt sich in der Kindheit, wenn sie nicht behandelt wird.
Schüchterne Kinder wollen in soziale Situationen eingebunden werden, mit Gleichaltrigen spielen, experimentieren und sich der Welt öffnen. Sie erreichen das jedoch nicht, da sie von ihrer sozialen Angst überwältigt und gehemmt werden. Sie haben Angst, beurteilt und kritisiert zu werden, Fehler zu machen, sich zu entblößen oder lächerlich zu machen. Um diese Angst zu überwinden, benötigen sie Bewältigungswerkzeuge.
Wenn du deine Schüchternheit ablegen möchtest, musst du deshalb Innenschau halten und den Ursachen auf die Spur gehen. Warum bist du schüchtern? Die Beantwortung dieser Frage hilft dir, Entscheidungen zu treffen. Du musst lernen, negative Emotionen zu rationalisieren, denn diese halten dich gefangen. Eine Psychotherapie kann dir dabei helfen, dein Ziel zu erreichen.
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