Orchideen- und Löwenzahnkinder

Manche Kinder sind leidenschaftlich, impulsiv und neugierig, andere ängstlich, introvertiert und schnell gestresst. Doch alle brauchen Liebe und Schutz, um sich richtig entwickeln zu können.
Orchideen- und Löwenzahnkinder
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 18. Oktober 2022

Kinder sind faszinierend. Sie kommen mit ihrer eigenen Persönlichkeit zur Welt, welche trotz zahlreicher Umwelteinflüsse die Einstellung zum Leben prägt. Manche Kinder sind leidenschaftlich und neugierig, andere ängstlich und schnell gestresst. Es gibt Kinder, die bei Geräuschen, durch fremde Menschen oder bestimmte Orte schnell nervös und unruhig werden.  Der Wissenschaftler Dr. Thomas Boyce nennt sie Orchideenkinder. Die Löwenzahnkinder hingegen kämpfen sich durch und sind tapfer. 

Dr. Thomas Boyce, emeritierter Professor für Kinderheilkunde und Psychiatrie an der Universität Kalifornien, hat sein Leben der Erforschung von Stress in der Kindheit gewidmet. Lies weiter, um Details über seine höchst interessante Theorie zu erfahren.

Alle Kinder können glücklich sein, ganz egal mit welcher Persönlichkeit sie zur Welt kommen. Wir müssen uns jedoch ihrer Bedürfnisse bewusst sein.

Orchideen- und Löwenzahnkinder
Jedes Kind ist einzigartig und hat eine ganz eigene Art, mit Stress umzugehen.

Orchideen- und Löwenzahnkinder

Eltern wissen aus eigener Erfahrung, dass jedes Kind einzigartig und außergewöhnlich ist. In der Erziehung und Bildung glauben wir jedoch noch immer, dass ein und dieselbe Methode für alle funktionieren muss. Die Unterschiede zwischen Orchideen- und Löwenzahnkindern sind jedoch enorm und dies sollten wir unbedingt berücksichtigen.

Dr. Thomas Boyce erforscht seit über 40 Jahren die menschliche Stressreaktion. Er hat häufig beobachtet, dass viele Personen trotz ihrer schweren Kindheit später ein erfülltes Leben erreichen, ohne an Nachwirkungen zu leiden. Doch warum tragen manche das ganze Leben lang ein tiefes Trauma mit sich, während andere die Kraft haben, sich selbst davon zu befreien und eine positive Einstellung anzunehmen?

In seinem Buch “Orchidee oder Löwenzahn?: Warum Menschen so unterschiedlich sind und wie sich alle gut entwickeln können” (2019) gibt Dr. Thomas Boyce die Antworten auf diese Frage. Kinder zeigen sehr unterschiedliche Reaktionen auf ihre Umwelt, die genetisch bedingt sind: Resilienz oder Sensibilität. 

Die Studien von Dr. Thomas Boyce haben ergeben, dass 80 % der Kinder Löwenzahnkinder sind: Diese sind belastbar und können gut mit Stress umgehen. Nur 20 % zählen zu den Orchideenkindern, die sehr empfindsam auf Veränderungen und Reize reagieren.

Löwenzahnkinder schlagen überall Wurzeln

Neben der Umgebung, der Erziehung und dem sozialen Kontext, in dem sich ein Kind entwickelt, gibt es biologische Voraussetzungen, mit denen jedes Kind zur Welt kommt. Diese genetischen Faktoren bestimmen, ob ein Mensch mehr oder weniger resistent gegen Stress ist. Allerdings können wir alle Stressbewältigungsstrategien lernen, um mit Widrigkeiten richtig umzugehen. Das bedeutet, dass auch Orchideenkinder jene Fähigkeiten lernen können, über die sie nicht von Natur aus verfügen.

Dr. Thomas Boyce zeigte in einer Studie, dass wir alle durch eine Art biologische Reaktivität auf Stress definiert sind. Am widerstandsfähigsten sind die Löwenzahnkinder, die sich durch folgende Merkmale auszeichnen:

  • Sie sind von Natur aus neugierig und interagieren gerne mit ihrer Umgebung, ohne allzu viel Angst zu haben.
  • Löwenzahnkinder sind extrovertiert, nicht sehr ängstlich und neigen dazu, Risiken einzugehen.
  • Sie können gut mit Stress umgehen und reagieren nicht negativ auf Veränderungen.
  • Außerdem sind sie aktiv, lernwillig und haben keine Probleme damit, neue Kontakte zu knüpfen.
  • Sie sind auch risikofreudig, lebhaft und fröhlich.

Löwenzahnkinder haben größere genetische Puffer und können deshalb mit Umweltstress besser umgehen.

Orchideenkinder sind sensibel und haben ein großes Potenzial

Die Unterscheidung zwischen Orchideen- und Löwenzahnkindern ist essenziell, denn so können von Natur aus sensible und ängstliche Kinder spezifisch gefördert werden: Auch sie können mit bestimmten Strategien lernen, ihr Potenzial auszuschöpfen und sich besser an verschiedene Umgebungen anzupassen.

  • Orchideen sind anfälliger für äußere Reize: Sie lassen sich von Geräuschen, Lichtveränderungen, anderen Reizen und vor allem von ihrem sozialen Umfeld viel mehr beeinflussen.
  • Sie betrachten jede Situation als bedrohlich und verstärken damit dieses Gefühl zusätzlich.
  • Außerdem haben sie ein höheres Risiko, an Krankheiten wie Asthma, Angststörungen, Depressionen usw. zu leiden.
  • Wenn sie in ihrer Kindheit keine Zuneigung erhalten, angeschrien werden oder in einer dysfunktionalen Familie aufwachsen, ist das für diese Kinder höchst traumatisch. In der Zukunft könnten sich dadurch psychische Störungen oder andere Krankheiten entwickeln.
  • Orchideenkinder reagieren zwar empfindlicher auf negative Aspekte, erleben aber auch jedes positive Ereignis oder Detail mit großer Intensität. Sie blühen in einer glücklichen, sicheren und nährenden Umgebung auf und verwelken in jeder stressigen Situation.

Manche Kinder sind wie Orchideen: reaktiv, zart und empfindlich.

Eltern mit Orchideen- und Löwenzahnkindern
In derselben Familie kann es Orchideen- und Löwenzahnkinder geben.

Die Voraussetzung einer guten Erziehung ist, die Bedürfnisse jedes Kindes zu kennen

Kritiker der Theorie über Orchideen- und Löwenzahnkinder argumentieren, dass häufig eine Kombination der beiden Temperamente anzutreffen ist: die Tulpenkinder, die sich irgendwo zwischen Zerbrechlichkeit und Widerstandsfähigkeit befinden. 

Unbestreitbar ist, dass genetische Faktoren vorliegen, die wir nicht kontrollieren können. Manche Menschen sind offener und vertrauensvoller, andere reagieren empfindlicher auf ihr Umfeld. Wenn wir die Besonderheiten kennen, können wir Kinder einfühlsam und intelligent erziehen. Orchideenkinder können so selbstbewusster werden und Resilienz entwickeln. Löwenzahnkinder hingegen können nachdenklicher und umsichtiger werden und lernen, ihre Impulsivität zu zähmen. Schließlich brauchen alle Kinder Liebe und Schutz, um sich gesund entwickeln zu können.


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  • Boyce Thomas (2020) The Orchid and the Dandelion: Why Sensitive People Struggle and How All Can Thrive. Bluebird
  • Boyce, W & Ellis, Bruce. (2005). Biological sensitivity to context: I. An evolutionary-developmental theory of the origins and functions of stress reactivity. Development and psychopathology. 17. 271-301. 10.1017/S0954579405050145.
  • Slagt, M., Dubas, J. S., Deković, M., & van Aken, M. A. G. (2016). Differences in sensitivity to parenting depending on child temperament: A meta-analysis. Psychological Bulletin, 142(10), 1068–1110. https://doi.org/10.1037/bul0000061

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