Opferkultur: Wenn emotionale Erpressung zum Lebensstil wird
Wir alle haben irgendwann in unserem Leben in bestimmten Situationen die Opferrolle übernommen. Dies kommt besonders häufig in schmerzhaften oder traumatischen Momenten vor, in denen wir uns schutzlos und verletzlich fühlen. Die Opferkultur verstärkt dieses Verhalten: Immer mehr Menschen machen sich selbst zum Opfer.
Das Wissen, dass andere Menschen schützend und fürsorglich zur Seite stehen, ist sehr beruhigend. Sie schenken uns Aufmerksamkeit und machen uns zu Hauptdarstellern, was tatsächlich sehr aufbauend ist.
Allerdings machen sich manche Menschen zu chronischen Opfern, Viktimismus ist ihr Markenzeichen. In unserer Opferkultur sind diese Verhaltensmuster tief verankert. Sie erwarten von ihren Mitmenschen Hilfe, denn schließlich wissen wir alle, wie wichtig es ist, Unterstützung anzubieten.
Die chronische Opferrolle ist keine Pathologie, die die im DSM-5 klassifiziert ist. Allerdings könnte die psychologische Grundlage für die Entwicklung dieses Verhaltensmusters eine paranoide Persönlichkeitsstörung sein.
Die Opferkultur
Kontinuierliche Verstärkung
Manche Menschen machen Viktimismus zu ihrer Lebenseinstellung. Doch was treibt sie dazu? Die Antwort ist einfach: Verstärkung und kontinuierliche Aufmerksamkeit.
Wenn sich eine Person zum Opfer macht, fühlt sie sich schlecht und verstärkt ihre Rolle. Sie erlaubt sich selbst, die Opferrolle weiterhin zu spielen, um Aufmerksamkeit zu erlangen, und gerät in einen Kreislauf, der die Situation immer mehr verfestigt.
Die Opferkultur und die gesellschaftliche Rolle
Die Gesellschaft spielt eine Schlüsselrolle. Laut Giglioli, Experte für vergleichende Literaturwissenschaft und Autor des Werks “Die Opferfalle: Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt” ist die Opferrolle ein kultureller Zusatz zu den sozialen Gesetzen, die unsere Kultur bestimmen.
Opferkultur bedeutet, dass es gesellschaftlich akzeptiert ist, sich zum Opfer zu machen und dass es positiv bewertet wird, Menschen in Not zu helfen.
In der Opferkultur gibt es eine gewisse Tendenz, diese Opferrolle zu verstärken: “armes Ding”, “sie hat niemanden”, “ich muss helfen, ich kann nicht anders”… Dazu kommt die Angst, was die anderen wohl sagen werden: “Was werden sie von mir denken, wenn ich nicht helfe?”
Externer Kontrollmechanismus
Opfer glauben tatsächlich, dass andere die Schuld daran haben, was ihnen widerfährt. Sie denken auch, dass sie Pechvögel sind und alles Negative immer nur ihnen passiert. Das ist der sogenannte externe Kontrollmechanismus, durch den sie die Verantwortung für ihre Handlungen abweisen und auf andere Personen oder äußere Faktoren schieben.
“Menschen, die daran glauben, dass sie die Macht haben, ein gewisses Maß an Kontrolle über ihr Leben auszuüben, sind gesünder, effektiver und erfolgreicher als diejenigen, die nicht an ihre Fähigkeit glauben, ihr Leben zu verändern.
Albert Bandura
Viktimismus und Negativismus
Opfer neigen dazu, das, was ihnen widerfährt, zu verschlimmern, was sie daran hindert, die positiven Seiten zu sehen, und das Gefühl der Schwere des Geschehens noch verstärkt. Sie konzentrieren sich so sehr auf das Negative, dass das Gute unbemerkt bleibt. Folglich sind ihre Bewältigungsstrategien falsch, was sie daran hindert, Alternativen und mögliche Problemlösungen zu finden und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
“Optimismus ist von unschätzbarem Wert für ein sinnvolles Leben. Mit dem festen Glauben an eine positive Zukunft kann man den Dienst des eigenen Lebens auf das Wichtigste ausrichten.”
Martin Seligman
Opferkultur: emotionale Erpressung als eine Form der Kommunikation
Chronische Opfer versuchen, die Menschen in ihrem Umfeld zu manipulieren, um ihre Ziele zu erreichen. Sie sind meist gut darin, einfühlsame Menschen zu identifizieren und sie zu ihrem Vorteil auszunutzen, um ihre Ziele zu erreichen.
Wenn diese Person nicht tut, was sie von ihr erwarten, nehmen sie die Opferrolle an: “Ich habe immer alles für dich getan, und du?”, “Wenn du das nicht tust, liebst du mich nicht”… Damit lösen sie in der anderen Person Schuldgefühle aus, was emotionaler Erpressung gleichkommt.
Was tun bei Viktimismus?
Gib dem “Opfer” nicht, was es will. Damit bestärkst du seine Rolle nur. Du schenkst der betroffenen Person Aufmerksamkeit und sie spürt, dass ihre Strategie funktioniert.
- Erkläre dem “Opfer”, warum du dein Verhalten änderst, um ihm zu helfen, seine Komfortzone zu verlassen. Es muss lernen, dass Viktimismus nicht der richtige Weg ist. Versuche, andere Wege aufzuzeichnen und der Person zu erklären, dass sie nicht ständig andere für ihr eigenes Schicksal verantwortlich machen kann.
Halte emotionale Distanz. Das Zusammensein mit solch negativen Menschen zermürbt dich, deshalb solltest du Grenzen setzen, um dein eigenes Wohlbefinden nicht zu gefährden.
- Mische dich nicht zu sehr ein, wenn die Person sich nicht ändern will. Denke daran, dass du nicht selbst zum Opfer werden solltest. Es ist sicherlich wichtig, Verständnis zu zeigen und Hilfe zu leisten, du solltest jedoch nicht selbst zum Opfer werden.
Du bist nicht schuldig. Schuldgefühle zählen zu den Hauptwaffen des “Opfers”. Vergiss nicht, dass dies eine Strategie ist, um Ziele zu erreichen.
Sag Nein! Wenn du etwas nicht tun willst, sag freundlich, klar und deutlich Nein. Erfinde nicht zu viele Ausreden, denn das “Opfer” könnte sich gegen dich wenden.
Du solltest der Person empfehlen, professionelle Hilfe aufzusuchen.
Die Opferkultur toleriert chronische Opfer, die ihre Situation nur zu ihrem Vorteil nutzen. Sie belohnt Hilfe und Unterstützung, doch du solltest dir immer darüber bewusst sein, dass du damit dein eigenes Wohlergehen nicht gefährden solltest.