Lebensfilm bei Nahtoderfahrungen: Was passiert im Gehirn?

Nahtoderfahrungen, bei denen du dein Leben in Sekundenschnelle vorbeiziehen siehst, sind sehr einschneidende Erlebnisse, die das Leben grundlegend verändern können.
Lebensfilm bei Nahtoderfahrungen: Was passiert im Gehirn?
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 25. April 2023

Viele Menschen sehen in kritischen und bedrohlichen Situationen Fragmente ihrer Existenz wie in einem Film ablaufen. In unserem heutigen Artikel sprechen wir über diese Erfahrungen, die Lebenspanorama oder Lebensfilm genannt werden. Die Wissenschaft untersucht diesen kurzen Lebensrückblick schon seit Langem.

Es gibt zahlreiche Zeugnisse über derartige Erfahrungen. Die erste Aufzeichnung berichtet über ein Ereignis im Leben des Schweizer Geologen Albert Heim. Im Jahr 1892 stürzte dieser beim Bergsteigen von einer Klippe. Während des dramatischen Sturzes hatte er das Gefühl, weit weg von dem Ort zu sein, an dem sein Körper später aufgefunden wurde. Er sah eine Reihe von Bildern, die mit seinem eigenen Leben zu tun hatten. Dieses Erlebnis machte den Schweizer schließlich zum Pionier in der Erforschung von Nahtoderfahrungen.

Unsere Sicht auf die Zeit verändert sich durch Grenzerfahrungen, bei denen das Leben bedroht ist.

Frau im Wald sieht Lebensfilm
Der Lebensfilm, den viele bei Nahtoderfahrungen vor Augen sehen, steht mit der kortikalen Enthemmung im Zusammenhang.

Veränderungen nach einer Nahtoderfahrung

Der Lebensfilm, den manche Menschen in Extremsituationen vor ihren Augen sehen, gestaltet sich sehr unterschiedlich. Ein Unfall, ein Aufenthalt im Operationssaal oder eine bedrohliche Situation können das Gehirn in diesen Zustand versetzen. Personen, die diese außergewöhnliche Erfahrung erleben, erfahren oft tiefe Veränderungen ihrer Persönlichkeit.

Manche Menschen haben keine Angst mehr vor dem Tod, viele werden sich der Schönheit dieser Welt bewusst. Diese tiefgehenden Veränderungen führen oft auch dazu, dass Betroffene den Beruf aufgeben und neue Prioritäten in ihrem Leben setzen. Sie werden menschlicher und bevorzugen ein einfaches Leben. Dies ist nach einem traumatischen Ereignis verständlich. Der Lebensfilm wirft jedoch viele Fragen auf. Wir sehen uns anschließend an, welche bereits von der Wissenschaft beantwortet wurden.

Gehirnstress und die Veränderung der Zeit

Im Jahr 2017 veröffentlichte ein israelisches Forschungsteam der Hebräischen Universität Hadassah in Jerusalem eine Studie, in der Menschen befragt wurden, die einen Lebensfilm erlebt hatten. In diesem Moment hört die Zeit auf zu existieren, fast so wie es der spanische Maler Dalí auf seinen Bildern mit den weichen Uhren, welche die zerrinnende Zeit darstellen, festhielt. Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen. Diese Theorie stimmt auch mit den Aussagen des Philosophen Immanuel Kant überein, der die Zeit als Konstrukt des menschlichen Geistes bezeichnete. Viele Neurologen halten an dieser Idee fest: Die Wahrnehmung der Zeit und ihre Organisation sind nichts anderes als Produkte unseres Bewusstseins.

Die kortikale Enthemmung

Bei einer Bedrohung reagiert das Gehirn mit einer sehr intensiven Aktivität, um sich zu schützen. Dies kann in Extremsituationen zu einer dissoziierten Enthemmung im präfrontalen Kortex führen und eine Überwachheit auslösen, die zu einer Beschleunigung von Gedanken und Bildern führt. Betroffene sehen den sogenannten Lebensfilm und erleben eine veränderte Zeitwahrnehmung.

Manche Menschen sehen ihr ganzes Leben vor ihren Augen und kommen dabei mit Szenen aus der Vergangenheit in Berührung, an die sie sich nicht mehr erinnern konnten.

Mann berichtet über Lebensfilm
Viele Menschen benötigen nach Nahtoderfahrungen psychologische Unterstützung.

Der Lebensfilm: eine Erfahrung, die Unterstützung und Akzeptanz erfordert

Der berühmte Neurologe Oliver Sacks wies darauf hin, dass die Erfahrung des Lebensfilms in Wahrheit eine “extrem komplexe Halluzination” ist. Der Psychiater Bruce Greyson, welcher diese Art von Phänomenen sehr genau untersuchte, betont, dass die neurologischen Hypothesen bisher keine eindeutige Erklärung dafür liefern, warum diese Phänomene auftreten.

Es ist klar, dass es in unserem mentalen Universum ein Grenzgebiet gibt, das sich uns entzieht. Neben der Frage nach dem Warum lohnt es sich jedoch, sich auf das Wozu zu konzentrieren. Es handelt sich nicht um ein paranormales Phänomen und auch nicht um eine psychische Störung, sondern um reale sowie konkrete Erfahrungen, die schwer verständlich sind und oft psychologische Unterstützung erfordern – nicht nur, da der Lebensfilm verarbeitet werden muss, sondern auch, weil sich damit oft das ganze Leben des Betroffenen verändert.


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  • Nahm, Michael. (2016). Albert Heim (1849–1937): The Multifaceted Geologist Who Influenced Research Into Near-death Experiences and Suggestion Therapy. EXPLORE The Journal of Science and Healing. 12. 10.1016/j.explore.2016.04.007.

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