Kenopsia, die Unruhe an verlassenen, stillen Orten

Ein Schulkorridor bei Nacht; ein verlassener Bahnhof; ein stillgelegter Vergnügungspark: Kenopsia beschreibt das Gefühl, das wir an verlassenen Orten verspüren. Erfahre mehr über dieses Phänomen.
Kenopsia, die Unruhe an verlassenen, stillen Orten
Sharon Laura Capeluto

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Sharon Laura Capeluto.

Letzte Aktualisierung: 13. Januar 2024

Kenopsia beschreibt die Unruhe, die durch die unheimliche Atmosphäre eines verlassenen Ortes, der Stille und Abwesenheit ausstrahlt, ausgelöst wird. Es kann sich um einen still gelegten Friedhof, um eine ungenutzte alte Banlinie, ein geschlossenes Theater oder andere verlassene Gebäude handeln, die ein seltsames Gefühl der Nostalgie auslösen, wenn wir an die Vergangenheit zurückdenken, in der diese Orte von Menschen frequentiert wurden.

Dieses melancholische Gefühl ist schwer in Worte zu fassen, doch wir alle erleben es an bestimmten Orten.

Kenopsia: Was ist das?

In seinem The Dictionary of Obscure Sorrows  gibt John Koenig Gefüheln, die wir alle empfinden, jedoch nur schwer beschreiben können, einen Namen. Kenopsia ist eines davon. Der Autor beschreibt diesen Begriff als “die unheimliche, traurige Atmosphäre eines Ortes, der normalerweise von Menschen bevölkert ist, jetzt aber verlassen und still liegt”. Kenopsia leitet sich von den griechischen Wörtern kenosis (dt. Leere) und opsia (dt. sehen) ab. Die wortwörtliche Bedeutung ist also “die Leere sehen” oder “sich leer fühlen”. 

Dieses Gefühl geht über die visuelle Wirkung eines Ortes ohne Aktivität hinaus. Es ist mit dem seltsamen Gefühl verbunden, die schattenhafte Essenz dessen wahrzunehmen, was war. Wenn du beispielsweise eine unbewohnte Allee entlanggehst, in der alle Geschäfte geschlossen sind, überkommt dich eine Melancholie, die sich nur schwer in Worte fassen lässt. Dasselbe Gefühl verspürst du, wenn du in den Sommerferien durch ein stilles Schulgebäude gehst, das sonst mit Schülern und Schülerinnen gefüllt ist.

Die psychologischen Ursachen

Die Gründe für dieses merkwürdige Gefühl der Leere sind nicht klar. Es gibt jedoch einige psychologische Faktoren, die in direktem und repräsentativem Zusammenhang mit der Kenopsia stehen könnten.

Das Gesetz der Geschlossenheit

Eines der Prinzipien der Gestaltpsychologie ist das Gesetz der Geschlossenheit, das besagt, dass wir die Tendenz haben, in allem Zusammenhänge zu entdecken. Mit unseren Erfahrungen vervollständigen wir einzelne Elemente und schließen Lücken. Dies ist auch in leeren Räumen zu beobachten: Wir vervollständigen sie in unserem Geist und füllen sie.

Unser Verstand versucht, Muster, Formen oder Informationen auf der Grundlage von Vorwissen zu vervollständigen. Mit Abwesenheit und Leere kommen wir in der Regel nicht gut zurecht, zumindest ist die Toleranz begrenzt. Schließlich haben viele auch Angst vor dem AlleinseinIn diesem Sinne scheint uns die Kenopsia vor der Unbestimmtheit zu warnen und uns mit dem beunruhigenden, unbekannten Abgrund zu konfrontieren.

Der Mensch, ein soziales Wesen

Wir können die Kenopsia auch dann besser verstehen, wenn wir an unser menschliches Bedürfnis nach Gesellschaft denken. Wir benötigen den Kontakt zu anderen und fühlen uns deshalb in leeren, verlassenen Räumen nicht wohl.

Das Leben in der Gruppe ist seit Menschenbeginn eine effektive Anpassungs- und Überlebensstrategie. Heute ist es für uns so normal, von Menschen umgeben zu sein, dass wir die Stille und Leere zum Teil als bedrohlich empfinden. Die Abwesenheit lässt das unangenehme Gefühl der Kenopsia aufkommen. Einsamkeit, Verlassenheit und der innige Wunsch, mit anderen zusammen zu sein, überwältigen uns.

Emotionale Bindung und Angst vor dem Unbekannten

Diese dunkle Emotion kann auch mit der Angst vor dem Unbekannten verbunden sein. Es ist möglich, dass der Mangel an menschlichen Aktivitäten eine Umgebung schafft, in der das Vertraute fremd und beunruhigend scheint. Dieses Szenario kann Ängste und Befürchtungen auslösen. Die unheimliche Atmosphäre eines Ortes führt deshalb auch häufig zu intensiver Melancholie.

Kenopsia und Pandemie

Während der Covid-19-Pandemie konnten wir viele Orte, die normalerweise voller Leben und Leute sind, komplett leer und verlassen beobachten. Bis dahin schien es unvorstellbar zu sein, ikonische Orte wie den Times Square ohne Menschen zu sehen. Diese plötzliche und unangenehme Leere, der abrupte Stillstand des Lebens löst Unwohlsein und Ängste aus und regt uns zur Reflexion über die Vergänglichkeit des Lebens und die Unbeständigkeit der Dinge an.

Kenopsia, ein seltsames Gefühl, das wir alle kennen

Wir erwarten, überall Aktivität und Bewegung zu finden. Aber wenn wir mit einer leblosen, verlassenen Szene konfrontiert werden, in der nur die Abwesenheit von Menschen präsent ist, verspüren wir die beunruhigende Leere der Kenopsia.

Doch so paradox es auch klingen mag, viele von uns finden eine gewisse Schönheit in der Stille. Hast du dich schon einmal gefragt, warum die antiken Ruinen Griechenlands und Roms, die vergangene Geschichten erzählen, ein so beliebtes Urlaubsziel sind? Oder warum verlassene Orte trotz dieser Unheimlichkeit eine so starke Anziehungskraft auf uns ausüben? Die Leere und Abwesenheit ist nicht nur Kenopsia, sondern auch Poesie.


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