Keine Angst vor nichts, keine Angst vor Leid

Keine Angst vor nichts, keine Angst vor Leid
Raquel Aldana

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Raquel Aldana.

Letzte Aktualisierung: 09. November 2021

Ich bin verletzlich. Mit einem Windstoß kann ein Baum umfallen und mein Leben ist beendet. Ein Fahrer kann mich auf der Straße übersehen und mir das Leben nehmen. Während ich diese Worte schreibe, kann mein Herz plötzlich aufhören zu schlagen.

Dir könnte so etwas und vieles Anderes auch passieren. Du bist verletzbar, genau wie ich. Und wie die Menschen die du liebst: deine Mutter, dein Kind oder dein Freund. Ich will dir keine Angst machen!

Zu erkennen, dass unser Leben im Grunde nicht in unseren Händen liegt, macht es uns nur bewusster, und es ist einfach wahr.

Worum geht es hier? Ich habe das Gefühl, dass wir das Bewusstsein über die Zerbrechlichkeit unserer Existenz verloren haben. Das ist nicht so wichtig, die Konsequenzen jedoch schon: in einer nicht existierenden Realität zu leben, ist wie eine Einladung zu einem vergifteten Abendessen.

Wir streichen die Tage im Kalender, als wäre es die Tischkante, die wir aus Langeweile im Klassenraum angekritzelt haben. Wir dösen im Bus und in der U-Bahn vor uns hin, öffnen wieder und wieder die Haustür. Wir sind wie eine Lokomotive, die plangemäß über Gleise fährt.

Wir verschwenden unsere Zeit mit Angeben, uns selbst zu schützen, anzugreifen, über andere zu sprechen. Im Laden des Lebens verhalten wir uns wie der reiche Mann, der alles kauft, was er will, als würde sich sein Geldbeutel niemals leeren, als wäre seine Zeit unbegrenzt.

Zieh mal eine Bilanz: Auf der einen Seite notierst du deine Freuden und auf die andere Seite deine Pflichten und Zeitvertreib. Irgendwas machen wir falsch.

Es bist nicht nur du, der da was falsch macht, sondern unsere ganze Gesellschaft. Die durchschnittliche Zeit, die jeder verbraucht, um all die Pflichten zu erfüllen, die er zum Überleben tun muss, ist enorm!

Wir erlauben uns den Luxus, den Kindern zu erzählen, dass sie studieren oder eine Ausbildung machen sollten, um später in dem Beruf zu arbeiten, den sie mögen. Wie können wir in solch einer abscheulichen Weise lügen? Sind alle Jobs, die die heutige Gesellschaft zu bieten hat, wünschenswert für jemanden? Und hier kann sich jeder den Job vorstellen, den er will.

Eine weitere unglückliche Folge des Mangels an Bewusstsein für unsere Anfälligkeit und unserem „Herumgefahre über Gleise“ ist, dass wir blind gegenüber dem Leid sind. Wir denken, dass wir uns auf den richtigen Weg befinden, wenn wir die Dinge richtig machen, mit den thronenden Tugenden harter Arbeit und Aufopferung glänzen. So wird alles in Ordnung sein.

Also, warum sollten wir jemandem helfen, der frei für sich entschieden hat, dem Rezept des Erfolges nicht zu folgen? Wir dulden die Misere, weil wir glauben, dass sie eine Folge des Verhaltens des Betroffenen ist, weil wir denken, dass wir niemals dem Elend ausgesetzt sein werden.

Die geringe Wahrnehmung unseres Irrglaubens der Unverwundbarkeit, und das Fehlen von ähnlichen Verhältnissen in unserem persönlichen Leben, trennen uns in unseren Köpfen von den Menschen, die leiden.

Somit erheben wir nur den Blick von dem Buch, das wir gerade lesen, und gewinnen nur dann unsere menschliche Natur zurück, wenn wir merken, dass diese Barriere gebrochen ist. Und dafür muss das Leid immer näher an uns herankommen, und geschehen, bevor wir an unserem Zielbahnhof aussteigen.

Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung von Annette Shaf


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.