Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse?

Die moralische Natur des Menschen ist seit jeher ein Rätsel: Sind wir grundsätzlich gut oder neigen wir zum Bösen? Wir sehen uns die Perspektiven verschiedener Philosophen im Laufe der Jahrhunderte an.
Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse?
Matias Rizzuto

Geschrieben und geprüft von dem Philosophen Matias Rizzuto.

Letzte Aktualisierung: 14. September 2023

Ist der Mensch gut oder böse? Die Frage nach der moralischen Natur des Menschen ist nicht nur eine theoretische Kuriosität. Sie hat tiefgreifende Auswirkungen darauf, wie wir uns Gerechtigkeit, Bildung und Politik vorstellen und wie wir uns selbst und andere letztlich sehen.

Warum ist diese Frage wichtig? Wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch von Natur aus gut ist, dann resultiert das Böse oder Unrecht aus äußeren Faktoren: schlechte Erziehung, negative Umwelteinflüsse oder unglückliche Umstände.

Wenn wir hingegen glauben, dass wir von Natur aus böse oder egoistisch sind, dann erfordern unsere guten Handlungen eine bewusste Anstrengung, um die zugrundeliegende Natur zu überwinden. In diesem Fall wären Institutionen und soziale Regeln nötig, um die schlimmsten Neigungen im Zaum zu halten.

Das Problem von Gut und Böse in der Antike

Seit der Antike ist die Frage nach den Eigenschaften unserer moralischen Natur ein wichtiges Thema. Sokrates, der als Vater der westlichen Ethik gilt, vertrat die Idee, dass Tugend Wissen ist. Ihm zufolge tut niemand absichtlich Böses. Wenn Menschen bösartige Handlungen begehen, tun sie das aus Unkenntnis des Guten.

Hier besteht eine Identität zwischen Tugend und Moral. Wenn man das Gute kennt, wird man auch danach handeln. Deshalb sind Bildung und Selbstbeobachtung unerlässlich, um ein tugendhaftes Leben zu führen. Aus dieser Perspektive ist der Mensch nicht von Natur aus böse. Er kann nur uninformiert oder verwirrt darüber sein, was eine gute Handlung ausmacht.

Erste Unterschiede über die menschliche Natur

Dieser Gedanke wird von Platon durch seine Theorie der Formen vertieft. Es gibt unveränderliche und ewige Wirklichkeiten, die Ideen, von denen die ganze sinnliche Welt ein unvollkommenes Abbild ist.

Der Mensch hat Anteil an der “Idee des Guten”, aber sie wird durch die Ablenkungen und Täuschungen der materiellen Welt verdunkelt. Durch Bildung und Philosophie kann die Seele daran erinnert und auf sie ausgerichtet werden.

Aristoteles hingegen glaubte, dass der Mensch mit der Fähigkeit geboren wird, im Laufe seines Lebens Tugend und tugendhafte Gewohnheiten zu entwickeln. Tugend ist eine Eigenschaft, die durch Übung und Lernen erworben und durch einen Prozess der Erziehung und der persönlichen Entwicklung erreicht wird.

Der Mensch ist also nicht mit der “Idee des Guten” verbunden, sondern durch die Kultivierung der Tugenden neigen wir zum Guten.

Obwohl Aristoteles nicht die Überzeugung vertritt, dass die menschliche Natur eine angeborene und unveränderliche Güte besitzt, zeigt er einen optimistischen Ansatz in Bezug auf die angeborenen Fähigkeiten des Menschen, Tugend in seinem Verhalten und Charakter zu entwickeln und zum Ausdruck zu bringen.

Diskussion in der Moderne

Nach dem Mittelalter, das von religiösem Denken geprägt war, obwohl es sich auch auf antike Denkmuster stützte, entstand in der Moderne eine neue Art der Diskussion über das Problem von Gut und Böse.

Das Menschenbild begann, sich von transzendentalen Vorstellungen zu entfernen und sich mehr auf die greifbaren menschlichen Erfahrungen und Bedingungen zu konzentrieren. Dabei entwickelten sich zwei Hauptströmungen, die den Kurs der Ethik und der politischen Philosophie bestimmen sollten.

Der pessimistische Egoismus von Hobbes

Einer der berühmtesten und umstrittensten Denker der Moderne, Hobbes, vertrat in seinem Werk Leviathan¹ eine ziemlich düstere Sicht der menschlichen Natur. Er ging davon aus, dass wir Menschen in einem Naturzustand (ohne Gesetze oder soziale Strukturen) von grundlegenden Instinkten und vor allem vom Wunsch nach Selbsterhaltung angetrieben werden.

Dieser Zustand würde ihm zufolge unweigerlich zu einem “Kriegszustand aller gegen alle” führen. Sein berühmter Satz homo homini lupus (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) spiegelt diese Idee wider. Um das Chaos zu vermeiden, einigen sich die Menschen auf einen Gesellschaftsvertrag, in dem sie einige ihrer Rechte an einen Souverän oder eine Autorität abtreten, die Frieden und Sicherheit garantiert.

Rousseaus Optimismus

Im Gegensatz dazu vertrat Rousseau eine optimistischere Sicht der Menschheit. Er argumentierte, dass der Mensch in seinem Naturzustand gut ist, eine Art “guter Wilder”, der in Harmonie mit seiner Umwelt lebt.

Es sind die Gesellschaft und ihre Strukturen, die diese angeborene Güte korrumpieren und den Einzelnen dazu bringen, gegen seine wahre Natur zu handeln. Für Rousseau liegt der Weg zu einer gerechten und guten Gesellschaft darin, das angeborene Gute zu erkennen und die Gesellschaft so umzugestalten, dass sie diesem idealisierten Naturzustand näher kommt.

Aktuelle Kontroverse

Die heutige Welt mit ihren rasanten technologischen Fortschritten, soziokulturellen Veränderungen und globalen Herausforderungen bietet neue Prismen, durch die die menschliche moralische Natur untersucht werden kann. Man könnte sich fragen, ob die Begriffe gut und böse angemessen sind, um über unser Verhalten nachzudenken.

Wir könnten sogar die Existenz einer menschlichen Natur infrage stellen. Viele gehen davon aus, dass die Gesellschaft unsere Einstellungen prägt und dass Recht und Unrecht von Kultur zu Kultur unterschiedlich sind. Es gibt jedoch auch evolutionäre Ansätze, die unsere Neigung zu bestimmten Verhaltensweisen betonen.

Moral und Macht

Nietzsche hat mit seinem provokanten und rätselhaften Stil viele der traditionellen Vorstellungen von Moral infrage gestellt. Anstatt Moral im Sinne von absolutem Richtig und Falsch zu sehen, argumentierte er, dass diese Konzepte soziale Konstrukte sind, die bestimmten Machtinteressen dienen.

In seiner Kritik an der traditionellen Moral, insbesondere der jüdisch-christlichen Moral, sah er eine “Sklavenmoral”, die Demut und Unterwerfung verherrlicht, im Gegensatz zu einer “Herrenmoral”, die Stärke und Lebensbejahung zelebriert. Für diesen Philosophen ist die menschliche Natur eine Lebenskraft, ein “Wille zur Macht”. Und die Moral ist dieser Kraft untergeordnet.

Der situative Charakter der Moral

1971 führte der Psychologe Philip Zimbardo² ein berühmtes Experiment durch, bei der Studierende in einer Gefängnissimulation nach dem Zufallsprinzip in die Rollen von Wärtern oder Gefangenen eingeteilt wurden. Das Experiment wurde vorzeitig abgebrochen, weil das Verhalten der Wärter zu ausfällig wurde.

Zimbardo kam zu dem Schluss, dass Machtstrukturen und -situationen das moralische Verhalten des Einzelnen stark beeinflussen können, was darauf hindeutet, dass das Gute oder das Böse situationsabhängig sind.

Evolution und Kooperation

Aus dem Bereich der Evolutionsbiologie wurde vorgeschlagen, dass bestimmte moralische Verhaltensweisen, wie Kooperation oder Altruismus, evolutionäre Vorteile haben. So argumentiert Michael Tomasello in Warum wir kooperieren³, dass in primitiven Gesellschaften diejenigen Individuen, die mit anderen kooperierten und starke gemeinschaftliche Bindungen eingingen, eine höhere Überlebens- und Fortpflanzungswahrscheinlichkeit hatten.

Diese Sichtweise legt nahe, dass unsere Neigung, moralisch zu handeln, zumindest teilweise auf evolutionäre Kräfte zurückzuführen ist. Das bedeutet jedoch auch, dass Menschen die Fähigkeit haben, gegen ihre Instinkte zu handeln, was die Frage, ob wir von Natur aus gut oder böse sind, verkompliziert.

Eine anhaltende Debatte

Ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist, gehört zu den hartnäckigsten und am heftigsten diskutierten Fragen in der Geschichte des Denkens. Von antiken philosophischen Überlegungen bis zu neueren Forschungen bleibt die Suche nach einer einzigen Antwort schwer fassbar.

Unsere Natur ist komplex und lässt sich nicht auf die einfachen Kategorien von gut oder böse reduzieren. Jeder Mensch ist eine Mischung aus Erfahrungen, Erziehung, Genetik und persönlichen Entscheidungen. Außerdem unterscheiden sich moralische und unmoralische Werte in jeder Kultur und Gesellschaft erheblich.

Studien und Theorien legen zwar nahe, dass biologische und evolutionäre Faktoren unsere Moral beeinflussen, aber es ist auch klar, dass der Mensch eine unglaubliche Fähigkeit zur Veränderung und Anpassung hat. Durch Bildung, Selbstbeobachtung und Erfahrung entwickeln wir uns weiter und passen unser moralisches Verständnis und unsere Praktiken an.

▶ Lese-Tipp

  1. Leviathan, Thomas Hobbes (Autor), George H. Smith (Autor), Craig Deitschmann (Erzähler), Blackstone Audio 2006
  2. Der Luzifer-Effekt: Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen, Philip Zimbardo, Springer 2006
  3. Warum wir kooperieren, Michael Tomasello, Suhrkamp 2010

Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.



Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.