Introvertierte Menschen sind nicht langweilig!

Nicht jeder ist in der Lage, den Schatz zu entdecken, der sich hinter deinem scheinbaren Schweigen und deiner Zurückhaltung verbirgt.
Introvertierte Menschen sind nicht langweilig!
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 03. November 2022

Introvertierte Menschen haben einen schlechten Ruf: Viele glauben, dass sie sind langweilig, unfreundlich oder asozial sind. Doch das entspricht keinesfalls der Realität. Im Gegenteil, in Wahrheit sind sie sehr vielschichtig. Ein klassisches Beispiel dafür ist Agatha Christie: Sie war nicht an öffentlichen Veranstaltungen oder Gesellschaften interessiert und hatte Angst, als “schüchterner Idiot” dazustehen, wie sie selbst einst sagte. Doch sie war nicht schüchtern, sie war introvertiert. Ihr Zufluchtsort war das Schreiben und in dieser alternativen Welt fand sie ihr Glück – und vor allem auch ihren Erfolg.

Tatsächlich schuf sie Charaktere mit Persönlichkeiten, die sich sehr von ihrer eigenen unterschieden. Miss Marple war die klassische resolute, neugierige, redselige und schlagfertige Frau, der kein Detail entging. Hercule Poirot war ein klares Beispiel für eine selbstbewusste Person. Agatha Christie erschuf ein eigenes Universum, das von Geheimnissen und unvergesslichen Persönlichkeiten beherrscht wurde.

Zwar wurde ihr nachgesagt, etwas langweilig zu sein, da sie nie im Mittelpunkt einer Party stand. Allerdings kann niemand leugnen, dass es sich um eine einzigartige Persönlichkeit mit einer sehr reichen Innenwelt handelte.

Introvertierte Menschen mit negativen Aspekten wie Unsicherheit, Unfreundlichkeit, Kälte, mangelndem Enthusiasmus oder fehlendem Charisma zu beschreiben, ist nicht nur eine irrtümliche Verallgemeinerung, sondern eine Diskriminierung.

Introvertierte Menschen sind keinesfalls langweilig!
Introvertiertheit ist nach wie vor ein missverstandenes Persönlichkeitsmerkmal.

Introvertierte Menschen sind nicht langweilig, sie sind nur ruhiger

Seit Carl G. Jung die Begriffe Introvertiertheit/Extravertiertheit in seinem Buch “Psychologische Typen” populär machte, sind Jahrzehnte vergangen. In seiner Theorie erklärt er, dass introvertierte Menschen im Allgemeinen keine äußeren Reize benötigen, um sich gut zu fühlen.

Wenn der bekannte Schweizer Psychiater jedoch einen Blick auf unsere Gegenwart werfen könnte, wäre er wahrscheinlich empört darüber, wie wir (zumindest in der Populärpsychologie) mit diesem Thema umgehen. In Wirklichkeit definierte Jung diese Konzepte als verschiedene Arten von Bewusstsein, die wir alle in bestimmten Kontexten und Situationen erleben können. Mit anderen Worten: Jeder von uns ist mehr oder weniger introvertiert, abhängig von verschiedenen Variablen, wie dem sozialen Umfeld, in dem wir uns bewegen.

Außerdem schreiben wir jeder Sphäre auf voreingenommene Weise Eigenschaften und Merkmale zu. Eine Studie der Universität von Essex konnte beispielsweise eine verbreitete Meinung bestätigen: Die meisten Menschen denken, dass Introvertierte keinen Sinn für Humor haben, langweilig, unfreundlich und etwas inkompetent sind.

Carl G. Jung wäre wohl wütend oder enttäuscht über diese falschen Zuschreibungen. Denn introvertierte Menschen sind schlichtweg nicht langweilig. Es ist lediglich die Kultur selbst, die dazu neigt, überschwängliches, lautes und temperamentvolles Verhalten zu bevorzugen.

Wir neigen dazu, Introvertiertheit als das Gegenteil von Extrovertiertheit zu sehen (und andersherum). Wir haben es aber nicht mit zwei völlig gegensätzlichen psychologischen Typen zu tun. In Wirklichkeit bewegen wir uns alle auf einem Kontinuum: Manchmal ziehen wir uns mehr zurück und in anderen Situationen sehnen wir uns nach sozialen Kontakten.

Wenn psychologischer Exhibitionismus triumphiert

Wir leben in einer Gesellschaft, in der extrovertierte, offene und gesprächige Menschen, die die Aufmerksamkeit gerne auf sich ziehen, als erfolgreich betrachtet werden. Auch in sozialen Netzwerken beobachten wir psychologischen Exhibitionismus. Wer sein Leben, seine Gedanken und seine Bedürfnisse offenlegt, zieht sofort das Interesse Tausender von Menschen auf sich.

Das erklärt den Erfolg von Reality-Shows und Influencern, die ihr tägliches Leben öffentlich machen. Es sind diese auffälligen, nicht-privaten Dynamiken, die unterhalten, gefallen und Erfolg haben. Introvertierte, die sich nicht gerne zur Schau stellen, haben in diesen Medien keinen Platz, denn wer keinen Lärm macht, existiert auch nicht.

Das Gleiche passiert außerhalb der Grenzen des digitalen Territoriums. In der realen Welt bleiben ruhige Auftritte unbemerkt. Das bedeutet, dass die durchsetzungsfähigsten, enthusiastischsten und impulsivsten Personen zunächst das Vertrauen ihrer Mitmenschen gewinnen. Doch mit der Zeit machen wir oft die Erfahrung, dass diejenigen, die nicht so laut sind, außergewöhnliche Qualitäten verbergen.

Introvertierte Menschen möchten nicht ständig die Aufmerksamkeit anderer auf sich ziehen. Sie beobachten lieber, als dass sie beobachtet werden. Doch auch sie benötigen Anerkennung und Wertschätzung.

Introvertierte Menschen sind nicht langweilig, aber sie haben Angst, andere zu langweilen

Oft haben introvertierte Menschen Angst, andere zu langweilen, obwohl sie es nicht sind. Das scheint ein Widerspruch zu sein, aber es ist leicht zu verstehen: Diese Angst wird durch die Vorurteile genährt, die diese Art von Persönlichkeit umgeben. Da in unserer Gesellschaft die charismatische, gesprächige und wagemutige Person im Vordergrund steht, sind Introvertierte tendenziell im Nachteil und dies schlägt sich auch auf ihren Charakter nieder.

Introvertierte Menschen im Gespräch
Introvertierte Menschen brauchen etwas mehr Zeit, um sich bei Fremden wohlzufühlen.

Introvertierte Menschen sind nicht uninteressant, nur weil sie ruhig sind

Die laute Welt, in der wir leben, ist für Introvertierte nicht einfach. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass es sich um sehr wertvolle und interessante Persönlichkeiten handelt, die normalerweise einfühlsam und neugierig sind und eine vielfältige, interessante Innenwelt aufweisen.

Wie Carl G. Jung bemerkte, schätzen Introvertierte ein einfacheres Leben und sind viel nachdenklicher. Das bringt sie sicherlich weg von der aktuellen sozialen Dynamik, die so sehr auf Lärm, Zurschaustellung und impulsive, unreflektierte Kommunikation ausgerichtet ist. Es ist an der Zeit, die Introvertiertheit nicht länger als Schwäche, Defekt oder Nachteil zu betrachten. Denn introvertierte Menschen bereichern unser Leben.


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