Gedankentiefe: Muss alles analysiert werden und Sinn ergeben?

Gedankentiefe erfordert nicht nur enorme kognitive Ressourcen, sondern auch emotionale. Hochsensible Menschen weisen diese Fähigkeit häufig auf.
Gedankentiefe: Muss alles analysiert werden und Sinn ergeben?
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 30. Januar 2023

Gehörst du auch zu denen, die sich von einer zu oberflächlichen Welt enttäuscht fühlen? In unserer modernen Gesellschaft, in der der Schein wichtiger als das Sein ist, in einer Welt, in der zerbrechliche Beziehungen und die Macht der Unmittelbarkeit vorherrschen, ist es manchmal schwer, einen Sinn zu finden. Wenn diese Aussagen deine Gedanken reflektieren, gehörst du vielleicht zu jenen Menschen, die sich durch eine besondere Gedankentiefe hervorheben.

An manchen Tagen geht alles so schnell, dass dir der Mut, die Kraft und die Strategien fehlen, um dich an Veränderungen anzupassen. Ganz zu schweigen von der riesigen Menge an komplexen, wechselnden und unstrukturierten Informationen, die du jeden Tag erhältst. Wenn du jedes Detail akribisch analysierst, scheint die Welt ein einziges Chaos zu sein.

Wie gehst du mit all den Reizen um dich herum um? Wie verarbeitest du sie und triffst Entscheidungen? Fällt es dir in dieser lauten und komplizierten Welt schwer, mit deinem Leben zurechtzukommen? Es geht nicht nur dir so. Wir laden dich heute ein, mit uns über mögliche Gründe nachzudenken.

“Meine Gedanken entwirren sich zu dem Zeitpunkt, wenn sie meine Lippen und Fingerspitzen verlassen.”

Dawson Trotman

Gehirn und Gedankentiefe
Gedanken und Überlegungen, die in die Tiefe gehen, zeigen emotionale Sensibilität. 

Gedankentiefe

Wir sprechen über die Fähigkeit, wahrgenommene Reize oder Informationen tiefgehend, sorgfältig und reflektiert zu analysieren, um darin einen Sinn zu finden. Damit bezwecken wir, etwas zu lernen, eine Erfahrung zu machen und logische Konsequenzen zu ziehen. Personen mit dieser Kapazität sind ausgezeichnete Beobachter, die eine tiefe Verbindung zu ihrer Umwelt aufbauen. Wie ein Radar nehmen sie eine Vielzahl an Reizen auf und genau das ist ihr größtes Problem…

Diese Gedankentiefe erfordert nicht nur enorme kognitive Ressourcen, sondern auch emotionale. Menschen mit dieser Fähigkeit versuchen, jede neue Erfahrung mit ihrem Vorwissen zu verbinden, mit ihrem Lebensgepäck und ihrer Intuition, um einen konkreten Sinn zu finden. Das kann anstrengend und auch frustrierend sein, denn nicht alles, was uns umgibt, macht Sinn.

“Ruhig wie ein tiefer See mit ungetrübtem Wasser ist der Weise in seiner heiteren Klarheit.”

Buddha

Woran erkennt man Menschen mit Gedankentiefe?

Wir alle haben Momente, in denen wir tiefgehende Gedanken hegen, doch manche Menschen suchen diese Tiefe in jeder Situation: Sie verbringen viel Zeit damit, die Wesensart der Dinge zu erkennen, Gespräche zu analysieren und über Ereignisse nachzudenken. Diese Menschen zeichnen sich durch folgende Eigenschaften aus: 

  • Sie denken lange Zeit über Geschehnisse nach, da sie sich nicht mit oberflächlichen Analysen zufriedengeben. Deshalb können sie sich beispielsweise noch lange über ein Gespräch den Kopf zerbrechen, das andere schon längst vergessen haben. Oft verbringen sie nächtelang damit, jedes Detail zu analysieren.
  • Diese tiefgehende Analyse führt zu Müdigkeit und Erschöpfung.
  • Es handelt sich um sehr aufmerksame Menschen, die auf jedes Detail achten
  • Diese tiefe Verarbeitung hängt mit ihrer sensorischen Sensibilität zusammen. Das bedeutet, dass sich diese Menschen manchmal von lauten Geräuschen oder Lichtern überwältigt fühlen.

Hochsensibilität und die Suche nach dem Sinn

Hochsensible Menschen sind häufig an diesem Verarbeitungsmuster zu erkennen. Die Tiefe der Beobachtung, des Verstehens und der Informationsgewinnung ist eine entscheidende Eigenschaft dieses Persönlichkeitstyps. Untersuchungen von Bianca Acevedo, einer Forscherin der Abteilung für Psychologie und kognitive Wissenschaften an der Universität von Santa Barbara, belegen das.

Hochsensible Personen zeigen eine erhöhte Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit auf alle Umweltreize. Sie werden nicht nur stärker von ihrer Umgebung beeinflusst, sondern zeigen auch eine größere Nachdenklichkeit bei der Verarbeitung jeder Situation. MRT-Scans zeigen, dass ihre Gehirne bestimmte Besonderheiten aufweisen, die dieses Merkmal erklären könnten.

Die Nervennetzwerke, die mit der Aufmerksamkeit verbunden sind, sowie der Hippocampus und die Insula (die mit der kognitiven Verarbeitung zusammenhängen) weisen eine höhere Aktivität auf.

Wie kommt es zu dieser erhöhten Aktivierung?

Der Geist eines hochsensiblen Menschen ruht selten. Diese Personen verfallen oft in endlose Labyrinthe der Analyse, sie verlieren sich stundenlang in den Ästen des Nachdenkens. Ein kürzlich geführtes Gespräch oder eine alltägliche Situation wird tagelang unter dem mentalen Mikroskop analysiert.

Warum widmet sich das hochsensible Gehirn dieser tiefen Verarbeitung? Dr. Elaine N. Aron erklärt, dass dieses Persönlichkeitsmerkmal in der Vergangenheit ein evolutionärer Vorteil gewesen sein könnte. Die Analysefähigkeit und die Sensibilität könnten hilfreich sein, um Risiken vorherzusehen und bessere Entscheidungen für die soziale Gruppe zu treffen.

Diese Situationen führen jedoch zu kognitiver Ermüdung. Die beharrliche Suche nach dem Sinn ist oft erfolglos und sogar enttäuschend. Wenn wir die große Menge an Informationen um uns herum, die Ungewissheit und Zweideutigkeit in sich vereinen, betrachten, können wir das Unbehagen erklären, das hochsensible Menschen häufig empfinden.

Hochsensible Menschen sind wie das Objektiv einer großen Kamera: Sie können mehr Daten erfassen, aber sie müssen sie sorgfältig verarbeiten, um ein vollständiges Bild von der Realität um sie herum zu erhalten.

Traurige Frau weiß, was Gedankentiefe bedeutet
Die Gedankentiefe erfordert Zeit und Ressourcen, deshalb führt sie zu geistiger Erschöpfung und oft auch zu Angst.

Was können wir tun?

Der humanistische Psychotherapeut Rollo May erwähnte, dass menschliche Freiheit unter anderem bedeutet, sich eine Pause zwischen einem Reiz und seiner Reaktion zu gönnen. Mit anderen Worten: Nicht alles um uns herum muss einer Analyse oder einer ständigen Sinnsuche unterworfen werden. Es zahlt sich aus, zu differenzieren, denn nicht alles verdient unsere Aufmerksamkeit.

Eine tiefe Verarbeitung erfordert eine große geistige Anstrengung, die sich nicht immer lohnt. Außerdem ergibt nicht alles Sinn und das ist auch gut so. Manchmal müssen wir einfach akzeptieren, was geschehen ist, und loslassen… Nicht handeln ist auch eine Entscheidung. Denke also in dieser hektischen und chaotischen Welt daran, wählerisch zu sein, denn nicht alles hat deine Aufmerksamkeit verdient. 

Literaturempfehlung


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  • Acevedo BP, Aron EN, Aron A, Sangster MD, Collins N, Brown LL. The highly sensitive brain: an fMRI study of sensory processing sensitivity and response to others’ emotions. Brain Behav. 2014 Jul;4(4):580-94. doi: 10.1002/brb3.242. Epub 2014 Jun 23. PMID: 25161824; PMCID: PMC4086365.
  • Acevedo BP, Santander T, Marhenke R, Aron A, Aron E. Sensory Processing Sensitivity Predicts Individual Differences in Resting-State Functional Connectivity Associated with Depth of Processing. Neuropsychobiology. 2021;80(2):185-200. doi: 10.1159/000513527. Epub 2021 Feb 9. PMID: 33561863.

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