Doch kein Zusammenhang zwischen Serotoninmangel und Depression?
Jüngste Forschungsergebnisse zeigen, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Serotoninmangel und Depressionen gibt. Wir sprechen von einer wichtigen Erkenntnis, die einige der aktuellen Behandlungsmethoden infrage stellt. Die Wahrheit ist, dass wir seit vielen Jahrzehnten eine etwas reduktionistische Sicht auf die Mechanismen der Depression haben. Die Annahme, dass dieses Leiden durch ein “chemisches Ungleichgewicht” verursacht wird, ist noch immer weitverbreitet.
Betroffene können sich an der Erklärung festhalten, dass einzig und allein die Neurochemie für ihren Zustand verantwortlich ist, und sie selbst keine Veränderungen erzielen können. Wir wissen, dass Psychopharmaka zwar in der Lage sind, charakteristische Symptome zu lindern, jedoch eine Depression nicht beenden können. Antidepressiva lindern und betäuben das Leid, lösen aber nicht das zugrundeliegende Problem.
Die neuen Forschungsergebnisse weisen außerdem auf eine hochinteressante Theorie über den Wirkmechanismus von SSRI-Antidepressiva hin. Erfahre heute mehr darüber.
Serotoninmangel und Depression – ein Mythos?
Fast ein halbes Jahrhundert lang sind wir davon ausgegangen, dass ein niedriger Serotoninspiegel im Gehirn zu Depressionen führt. Die sogenannte “Serotonin-Hypothese” wurde durch die Tierforschung und durch eine weitere Tatsache gestützt: Der Wirkmechanismus der SSRI-Antidepressiva beruht auf der Hemmung der Wiederaufnahme des Neurotransmitters Serotonin, wodurch dessen Konzentration in den intersynaptischen Räumen erhöht wird.
Neue, sehr umfangreiche Forschungen entkräften allerdings diese bisher wissenschaftlich anerkannte Theorie. Ein Wissenschaftlerteam des University College London analysierte frühere Studien, die den Zusammenhang zwischen Serotoninmangel und Depression nachzuweisen schienen, entdeckte jedoch Fehler.
Diese Analyse und ihre Schlussfolgerungen wurden in der renommierten Zeitschrift Molecular Psychology veröffentlicht. Und die Ergebnisse sind eindeutig und gleichzeitig überraschend. Die Autoren haben keine stichhaltigen, zuverlässigen und konsistenten Beweise für einen direkten Zusammenhang zwischen einem niedrigen Serotoninspiegel und dem Ausbruch einer Depression gefunden.
Der Serotoninspiegel variiert bei depressiven oder nicht depressiven Menschen nicht.
Die Studie mit Hunderttausenden von Menschen sieht keinen direkten Zusammenhang
Es ist möglich, dass viele diese Schlussfolgerung infrage stellen. Wenn jedoch verschiedene detaillierte Untersuchungen und Forschungen an einer sehr großen Anzahl von Menschen dieselben Ergebnisse erzielen, gibt es wenig Raum für Zweifel.
Aus genetischer Sicht und mit der heutigen Technologie kann gezeigt werden, dass der Neurotransmitter Serotonin nicht mit depressiven Störungen in Verbindung steht. Außerdem gibt es keine Beweise dafür, dass eine Tryptophan-reiche Ernährung (Tryptophan ist die Vorstufe von Serotonin) die Stimmung verbessert.
Was ist mit Antidepressiva?
Wenn nicht ein Serotoninmangel für Depressionen verantwortlich ist, warum reduzieren dann Antidepressiva, die auf dieser Grundlage aufbauend entwickelt wurden, die Symptome einer Depression? Um diese Frage beantworten zu können, ist es wichtig, die Funktionsweise von Psychopharmaka zu verstehen.
In der Regel behandeln Experten Depressionen mit SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) wie Sertralin, Fluoxetin oder Citalopram. Sowohl die genannte Studie als auch die gesamte wissenschaftliche Literatur bestätigen die Wirkung dieser Antidepressiva, allerdings wissen wir nicht genau, warum der gewünschte Effekt eintritt.
Die zitierte Studie des University College London konnte jedoch sehr interessante und aufschlussreiche Ergebnisse erzielen, die wir uns nachfolgend etwas genauer ansehen.
Die langfristige Einnahme von Serotonin könnte den Basalspiegel senken
Unser Gehirn hat eine erstaunliche und entscheidende Eigenschaft: seine Plastizität. Bei Personen, die über einen längeren Zeitraum hinweg Drogen einnehmen, kann sich das Gehirn verändern. Es gewöhnt sich nicht nur an die Chemikalien, sondern passt auch verschiedene Wirkmechanismen an.
Wissenschaftler haben festgestellt, dass der Spiegel des natürlich vom Körper erzeugten Serotonins nach dem Absetzen von SSRI-Antidepressiva sinkt, wenn diese Arzneimittel über einen langen Zeitraum eingenommen werden. Das Gehirn scheint bereits über die ausreichenden Mengen zu verfügen und reduziert deshalb die eigene Produktion, um Ressourcen zu sparen.
Das Gehirn benötigt sehr viel Energie. Es hat die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren und Ressourcen abzuziehen oder an anderen Orten einzusparen. Die Einnahme von Fluoxetin oder anderen Antidepressiva über einen kurzen Zeitraum scheint positive Auswirkungen zu haben: Der Serotoninspiegel steigt.
Der Schlüssel liegt in der Neuroplastizität, nicht im Serotoninmangel
Wer schon einmal Antidepressiva eingenommen hat, weiß, wie sie wirken. Nach etwa zwei Wochen entfalten sie ihre Wirkung, wobei Wissenschaftler vermuten, dass Serotonin-Wiederaufnahmehemmer die Neuroplastizität fördern. Der Schlüssel ist nicht der höhere Serotoninspiegel im Gehirn, sondern ein besser vernetztes, beweglicheres, flexibleres und veränderungsorientiertes Gehirn. Das Gehirn verändert sich und verarbeitet die Realität auf eine gesündere Art und Weise. Eine kurze, gut abgestimmte Verabreichung von Psychopharmaka kann dies erreichen. In Kombination mit einer Psychotherapie sind die Ergebnisse noch besser.
Was verursacht Depressionen?
Wenn das Ungleichgewicht des Serotonins keine Depression auslöst, welche Ursachen führen dann dazu? Die derzeit stärkste Hypothese baut auf der Neuroplastizität auf. Ein depressiver Zustand könnte das Ergebnis eines Mangels an neuronalen Verbindungen sein. Deshalb sind innovative Denkansätze nötig, um das Wohlbefinden betroffener Menschen durch neue Methoden zu fördern.
Manche Experten gehen davon aus, dass auch chronische Entzündungen im Blutkreislauf negative Auswirkungen auf die Gehirnfunktionen haben. Andere weisen auf die Beziehung zwischen Darm und Gehirn hin.
Wie wir wissen, ist die Depression eine komplexe und multifaktorielle Erkrankung, bei der genetische, soziale, erfahrungsbedingte und persönliche Faktoren eine Rolle spielen. Weitere Forschungen über die Ursachen sind grundlegend, um den betroffenen Personen helfen zu können.
Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.
- Moncrieff J (2022) The serotonin theory of depression: a systematic umbrella review of the evidence. Mol Psychiatry (July). doi:10.1038/s41380-022-01661-0.
- Wenk GL (2019) Your Brain on Food, 3rd Edition, Oxford University Press