Die Schweizer-Taschenmesser-Theorie: Die Modularität des Geistes

Die Schweizer-Taschenmesser-Theorie: Die Modularität des Geistes
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 24. April 2023

Die Schweizer-Taschenmesser-Theorie ist eine kontrovers diskutierte, aber deshalb nicht minder interessante Theorie über die Funktionsweise des Geistes. Gemäß diesem Ansatz besteht unser Gehirn aus hoch spezialisierten “Anwendungen”, um spezifische Probleme auf die effektivste Weise zu lösen. Unser Geist ist also eine Kombination aus bestimmten Modulen oder Werkzeugen, genau wie ein Schweizer Taschenmesser.

1992 wurde diese Idee vom Anthropologen John Tooby und der Psychologin Leda Cosmides vorgestellt. Wir wollen aber nicht unerwähnt lassen, dass diese Theorie sowie das Konzept der Modularität zur Erklärung von Wahrnehmungs- und kognitiven Prozessen von Experten der Neurowissenschaft seit jeher stark kritisiert werden.

Der Philosoph Jerry A. Fodor hat sein ganzes Leben damit verbracht, die kognitive Struktur des Menschen zu studieren. Er war ein Experte in Linguistik, Logik, Semiotik, Psychologie, Informatik sowie künstlicher Intelligenz. Eine seiner relevantesten Arbeiten ist The Modularity of Mind  (zu Deutsch: Die Modularität des Geistes,  nicht auf Deutsch verfügbar), die 1983 veröffentlicht wurde.

“Wir haben viel zu tun. Tatsächlich besteht unsere kognitive Erkenntnis bisher hauptsächlich darin, ein wenig Licht darauf zu werfen, wie viel Dunkelheit es gibt.”

Jerry A. Fodor

Der Mechanismus des kindlichen Geistes - besteht er aus Modulen?

Die Schweizer-Taschenmesser-Theorie

In einem Aspekt in Bezug auf die Schweizer-Taschenmesser-Theorie sind sich alle Experten einig. Schon Jerry A. Fodor wies darauf hin, dass das Gehirn als physische und beobachtbare Einheit dank technologischer Fortschritte immer leichter zu untersuchen sein werde. Allerdings gebe es einen bestimmten Punkt, an dem die Erforschung des Geistes auf eine andere, abstraktere und ungenauere Ebene verlagert werden müsse. An diesem Punkt verliere die Technologie an Wert. Daher verbindet die Schweizer-Taschenmesser-Theorie Philosophie und Psychologie, um unsere kognitiven Prozesse zu definieren und zu erklären.

Im Jahr 1950 proklamierte der Linguist und Philosoph Noam Chomsky eine seiner bekanntesten Theorie: Sprache sei kein erlerntes Verhalten, sondern eine funktionale und angeborene Fähigkeit. Diese Prämisse inspirierte Fodor Jahre später. Inspiriert war Fodor auch von Alan Turings Arbeiten über mathematische Modellen. Nach und nach verfeinerte Fodor seinen Ansatz, der besagte, dass der Geist in spezialisierte Module unterteilt sei.

Fodor nannte diese “die psychologischen Fähigkeiten”. Der Philosoph ging davon aus, dass jeder Prozess unseres Geistes in verschiedenen spezialisierten Module stattfinde, wie einzelne Programme auf einem Computer an unterschiedlicher Stelle laufen. Danach gebe es ein Modul für Empfindung und Wahrnehmung, ein anderes für den Willen, noch ein anderes für die Erinnerung, für die Sprache usw.

Die Befürworter der Schweizer-Taschenmesser-Theorie

Jerry A. Fodor veröffentlichte seine Theorien in seinem Buch The Modularity of Mind.  Später publizierten John Tooby und Leda Cosmides die Theorie des Schweizer Taschenmessers basierend auf Fodors Arbeit.

Obwohl diese Theorie umstritten ist, verteidigen viele Wissenschaftler sie immer noch. Nancy Kanwisher, Professorin und Forscherin am MIT-Department für Gehirn- und Kognitionswissenschaften (Massachusetts, USA) , ist eine der Befürworterin der Theorie.

2014 hielt sie einen ihrer populärsten TED-Vorträge. In diesem Vortrag bekräftigte Kanwisher die Relevanz der Schweizer-Taschenmesser-Theorie. Denn tatsächlich führte sie mehrere wissenschaftliche Studien durch, die diese Theorie bestätigen. Ihre Studien wurden unter anderem im Journal of Neuroscience veröffentlicht.

Der menschliche Geist besteht laut Schweizer-Taschenmesser-Theorie aus Modulen.

Bei magnetresonanztomografischen Untersuchungen beobachtete Nancy Kanwisher, dass viele Gehirnregionen kaum miteinander kommunizieren. Das heißt also, dass sie isoliert arbeiteten. In seltenen Fällen werden eigentlich gut angebundene Hirnareale aufgrund von Krankheit isoliert, was genutzt wird, um Rückschlüsse auf die eigenständige Arbeit bestimmter Hirnbereiche zu ziehen.

Ein Beispiel hierfür ist die Prosopagnosie, eine Erkrankung, bei der der Betroffene ein normales Sehvermögen besitzt, aber trotzdem keine Menschen erkennen kann. Das bedeutet zum Beispiel, dass Betroffene zwar Kinder aus der Schule kommen sehen, aber sich nicht sicher sind, welches davon das ihre ist.

Die Schweizer-Taschenmesser-Theorie geht davon aus, dass viele spezialisierte Bereiche des Gehirns als Module arbeiten, z. B. solche, die Farbe, Formen, Bewegung und Sprache verarbeiten.

Kritik an der Theorie des modularen Geistes

Viele Fachleute betrachten dies als einen simplen Ansatz, bei dem eine natürliche Auslese nicht ausgeschlossen ist. Denn diese Theorie besagt, dass unser Verhalten einem Programm ähnele, das wir im Laufe der Zeit erwerben. Somit entwickele und spezialisiere sich jeder Prozess oder jede Funktion unabhängig von den übrigen. Die Realität aber sei wohl viel komplizierter als es diese Theorie erscheinen lässt.

Obwohl bestimmte Bereiche des Gehirns kaum miteinander kommunizieren, arbeitet das Gehirn nicht in spezialisierten und voneinander abgetrennten Modulen. Das Gehirn ist darauf ausgelegt, Informationen auszutauschen und als eine Einheit zu arbeiten.

Wir als Menschen verwenden unterschiedliche Konzepte, Prozesse und Induktionen, um unseren Alltag zu meistern. Daher kann der menschliche Geist nur viel komplizierter, faszinierender und unvorhersehbarer sein als ein schlichter Computer.


Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.


  • Fodor, Jerry (1983) La modularidad de la mente. Madrid: Morata
  • Arbib, M., 1987. Modularity and interaction of brain regions underlying visuomotor coordination. In J. L. Garfield (ed.), Modularity in Knowledge Representation and Natural-Language Understanding, Cambridge, MA: MIT Press, pp. 333–363.
  • Bacáicoa Ganuza, F. (2002). La mente modular. Revista de Psicodidáctica, 13: 1-24.

Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.