Die Polyvagal-Theorie

In seiner Polyvagal-Theorie behauptet Dr. Stephen Porges, dass wir Menschen ein unbewusstes Scan-System haben. Dieses interpretiert die Anzeichen von Gefahr, die wir wahrnehmen, ohne dies zu bemerken.
Die Polyvagal-Theorie
Gema Sánchez Cuevas

Geprüft und freigegeben von der Psychologe Gema Sánchez Cuevas.

Geschrieben von Sonia Budner

Letzte Aktualisierung: 17. Februar 2023

Vermutlich bist du dir gar nicht darüber bewusst, welche unbewussten Vorgänge in deinem Körper und Geist ablaufen. Die Polyvagal-Theorie versucht, einen dieser intuitiv ablaufenden Prozesse zu erklären.

Sicherlich hast du schon Situationen erlebt, in denen du das Gefühl hattest, in Gefahr zu sein, obwohl es keinen offensichtlichen Grund dafür gab. Obwohl du dich selber bedroht fühlst, scheint niemand um dich herum irgendetwas Besonderes zu bemerken.

Jeden Tag erkennst und interpretierst du ganz unterschiedliche soziale Signale. Wenn du mit anderen Menschen interagierst, nimmst du ganz unbewusst deren Gesichtsausdruck, ihre Körpersprache und den Ton ihrer Stimme wahr. Während dein Körper und dein Geist diese Signale interpretieren, schärfen diese Signale und deine Umgebung auch deine Selbstwahrnehmung.

Die Informationen, die dein Körper aufgrund dieser Signale verarbeitet, sagen dir, wem du vertrauen kannst und wem nicht. Daher entscheidest du, wer oder was eine Bedrohung sein könnte und reagierst entsprechend.

Polyvagal-Theorie - nachdenkliche Frau

Neurozeption und die Polyvagal-Theorie

Dr. Stephen Porges hat die Polyvagal-Theorie entwickelt. Sie beschreibt den Prozess, durch den neuronale Schaltkreise in der Lage sind, Anzeichen für Gefahren in deiner Umgebung als “Neurozeption” zu erkennen. Durch die Neurozeption untersuchst du unbewusst die Menschen und deine Umgebung, um dadurch herauszufinden, ob du sicher bist oder ob sie eine Bedrohung für dich darstellen.

Dieser Prozess läuft vollkommen unbewusst in deinem vegetativen Nervensystem ab. Genau wie du ohne jede bewusste Anstrengung atmest, nimmst du auch die Signale deiner Umgebung automatisch wahr.

Scannen deiner Umgebung

Diese unwillkürliche Suche nach potentiellen Gefahren erfolgt von Geburt an. Sie ist für unser Überleben sehr wichtig. Unser Körper ist darauf ausgerichtet, das Geschehen in unserem Umfeld zu beobachten, zu verarbeiten und darauf zu reagieren.

Daher reagieren bereits Babys auf Gefühle wie Gefahr, Sicherheit oder Nähe zu ihren Eltern. Da diese Reaktion bereits mit der Geburt beginnt, verbringen wir unser gesamtes Leben damit, unbewusst unsere Umgebung auf Anzeichen für Gefahr oder Sicherheit zu untersuchen und diese zu bewerten.

Drei Ebenen der Reaktionsentwicklung

In seiner Polyvagal-Theorie beschreibt Porges drei Ebenen der Reaktionsentwicklung. Er sagt, dass die Interaktion zwischen dem sympathischen und dem parasympathischen Nervensystem nicht nur eine Frage des Gleichgewichts ist. Porges ist davon überzeugt, dass die Hierarchie der Reaktionen ein Teil des vegetativen Nervensystems ist. Daher argumentiert er, dass die Reaktionen in drei Schritten erfolgen:

  • Immobilisierung. Dies ist der einfachste Schritt. Die Immobilisierungsreaktion auf Anzeichen von Gefahr erfolgt im Vagusnerv. Der dorsale Teil dieses Nervs reagiert auf Signale extremer Gefahr und macht dich vollständig bewegungsunfähig. Es ist, als würde dein parasympathisches Nervensystem mit voller Geschwindigkeit aktiviert werden und deine körperlichen Reaktionen dich an Ort und Stelle fesseln.
  • Mobilisierung. Diese Reaktion entsteht in deinem sympathischen Nervensystem. Der Sympathikus ermöglicht es dir, in gefährlichen Situationen sehr schnell zu reagieren. So kannst du dich dann gegen Bedrohungen wehren.
  • Soziale Bindung. Dies ist der letzte Schritt und die letzte Reaktion, die Menschen in der Hierarchie entwickeln. Sie reagiert auf die ventrale Seite des unteren Nervs, der zu dem Nerv gehört, der auf Gefühle von Sicherheit und Bindung reagiert. Soziale Bindung ist ein Prozess, bei dem du dich in Gefühlen wie Sicherheit und Frieden verankert fühlst.
Polyvagal-Theorie - Zeichnung eines Gehirns

Die Auswirkungen eines Traumas

Wenn Menschen ein Trauma erlebt haben, kann dadurch ihre Fähigkeit, die Umgebung auf Anzeichen von Gefahr zu untersuchen, stark verzerrt sein. Dies trifft besonders dann zu, wenn Immobilisierung ein wichtiger Teil dieser traumatischen Erfahrung war.

Darüber hinaus besagt die Polyvagal-Theorie, dass eine der Funktionen dieses Systems darin besteht, dich davor zu schützen, noch einmal in eine verwundbare Position zu geraten. Daher handelt der Körper, um diese Situationen zu vermeiden. Dies wiederum kann dazu führen, dass du wesentlich empfindsamer auf die Signale um dich herum reagierst und mögliche Gefahren wahrnimmst, die gar nicht existieren.

Daher kann es passieren, dass ein traumatisierter Mensch viele harmlose und gutartige Anzeichen als bedrohlich und gefährlich interpretiert. Auch eine Veränderung des Gesichtsausdrucks, der Tonlage oder eine bestimmte Körpersprache können diese unbewusste Abwehrreaktion auslösen.

Der Vagusnerv und die Polyvagal-Theorie

Dein Vagusnerv ist an der Regulation zahlreicher körperlicher Funktionen beteiligt. Darüber hinaus hat er maßgeblichen Einfluss auf die Hirnnerven, die soziale Bindungen durch Mimik und Vokalisation regeln.

Wir Menschen streben alle nach Sicherheit und Vertrauen im Umgang mit anderen Menschen. Daher erlernen wir sehr schnell, die Anzeichen zu interpretieren, die uns darauf hinweisen, dass wir nicht sicher sind. Infolgedessen fällt es uns leichter, gesunde und bedeutsame Verbindungen mit anderen Menschen aufzubauen.


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  • Clarke, Jodi (2019) Polyvagal Theory and How It Relates to Social Cues. How the Body and Brain Are Impacted by Your Environment. Verywell Mind

  • Porges S. W. (2009). The polyvagal theory: new insights into adaptive reactions of the autonomic nervous system. Cleveland Clinic journal of medicine, 76 Suppl 2(Suppl 2), S86–S90. doi:10.3949/ccjm.76.s2.17

  • Maercker, A., & Hecker, T. (2016). Broadening perspectives on trauma and recovery: a socio-interpersonal view of PTSD. European journal of psychotraumatology, 7, 29303. doi:10.3402/ejpt.v7.29303


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