Die Geschichte von Neve, einem prähistorischen Mädchen
Der Verlust eines Kindes ist für die Eltern eine der schlimmsten Erfahrungen. Auch unsere Vorfahren erlebten dieses schmerzliche Ereignis auf dieselbe Weise, was in der Höhle von Arma Veirana in Italien deutlich wird. In einem mehr als 10.000 Jahre alten Grab, dem ältesten Europas, wurde ein Kind gefunden, das 40 Tage nach seiner Geburt starb. Die Archäologen, die das Grab entdeckten, nannten es Neve, was in italienischer Sprache Schnee bedeutet.
Dieses Kind erhielt bei seiner Bestattung höchste Ehren, was nicht nur den Schmerz zeigt, den seine Familie erlebte, sondern auch die Anerkennung des Neugeborenen in seiner sozialen Gruppe. Ihre Art, den Tod zu verstehen und ihre Bestattungspraktiken sind unseren Traditionen erstaunlich ähnlich. Es spielte keine Rolle, dass die Kreatur erst ein paar Wochen alt war. Neve galt als wichtiges Mitglied der sozialen Hierarchie und wurde deshalb durch verschiedene Riten und Gaben geehrt.
Ein Team von Archäologen unter der Leitung des National Geographic-Forschers Jamie Hodgkins fand das älteste Kindergrab Europas. Die Entdeckung deutet darauf hin, dass unsere mesolithischen Vorfahren Jungen und Mädchen gleichermaßen schätzten.
Neve, das Kind mit den Muschelperlen
Die materiellen Überreste, die bei archäologischen Ausgrabungen gefunden werden, sind wie ein Fenster zum Verständnis unserer Vergangenheit. Sie sind ein Anker, an dem wir uns festhalten können, um die menschliche Evolution zu verstehen: die kognitive, soziale, technologische, biologische, kulturelle und sogar spirituelle Entwicklung.
Die Forscher fanden 2018 mehrere Muscheln mit Loch, die an einem Leichentuch befestigt waren. Neve war in ein Tuch eingewickelt, in dem das Team unter der Leitung der Paläoanthropologin Prof. Jamie Hodgkins von der Universität von Colorado Denver auch faszinierende Grabbeigaben finden konnte. Die DNA-Analyse ergab, dass es sich um ein Mädchen handelte und dass sie zu einer Linie europäischer Frauen gehörte, die als Haplogruppe U5b2b bekannt ist.
Neve war in ein mit Muschelperlen verziertes Tuch gewickelt. Die Forscher vermuten, dass sie von ihrer Mutter in einem Tragetuch transportiert wurde.
Der Verlust der mesolithischen Jäger und Sammler
Das Mesolithikum ist die Zeit nach der letzten Eiszeit, in der das Jagen und Sammeln die wichtigste Lebensform war. Diese harte Zeit war entscheidend für unsere Evolution. Unsere Vorfahren verbesserten nicht nur ihre Steinbearbeitungstechniken, es entstanden auch immer mehr sesshafte Gruppen – ein Phänomen, das die Konsolidierung sozialer Strukturen und ihrer Hierarchien erleichterte.
Unsere Vorfahren mussten zu dieser Zeit mit extrem niedrigen Temperaturen zurechtkommen, was die Nahrungsbeschaffung oft schwierig machte. Aus Analysen wissen wir, dass Neves Mutter sich pflanzlich ernährte und dass das Baby schon während der Schwangerschaft Entwicklungsprobleme hatte.
Die genaue Ursache seines Todes ist nicht bekannt, aber wir wissen, dass die harten Bedingungen, unter denen sie lebten, häufig zum Tod von Neugeborenen führten. Die Wissenschaftler konnten anhand einer detaillierten Histologie erkennen, dass das Wachstum einiger Zähne bereits vor der Geburt aufhörte, was vermutlich auf den großen Stress zurückzuführen ist, dem das heranwachsende Baby im Mutterleid ausgesetzt war.
Ein ganz besonderes Begräbnis für Neve
Neve wurde in ein Leichentuch gehüllt und im tiefsten Teil der Höhle von Arma Veirana begraben. Das Forscherteam fand 60 Muscheln, die vermutlich an dem Tuch befestigt waren. Das Kind erhielt außerdem verschiedene Anhänger und eine Adlerkralle mit auf den Weg. Die Höhle befindet sich nicht in Küstennähe, die Muscheln wurden deshalb vermutlich unterwegs gesammelt, denn es handelte sich um wertvolle und außergewöhnliche Objekte.
Die Bestattung erfolgte auf sehr sorgfältige Weise, was auf die große Wertschätzung schließen lässt, die die Gruppe dem Kind entgegenbrachte. Auch die Muschelperlen, die durchbohrt und zu einer Kette aufgereiht waren, um das Leichentuch zu schmücken, weisen darauf hin. Die Adlerkralle diente vermutlich zum Schutz des Kindes oder symbolisierte Macht.
Die Bestattung von Neve führt uns zurück in unsere Vergangenheit und zeigt uns, dass sich unsere Gefühle, die Essenz des Menschen, die in der Liebe und Zuneigung zu unseren Angehörigen besteht, kaum geändert hat.
Unsere Vorfahren haben uns in diesem Höhlengrab in Ligurien eine tiefe Botschaft hinterlassen, die uns zum Nachdenken anregt: Selbst das kleinste, kürzeste, zerbrechlichste Leben soll verehrt, geliebt und gepflegt werden.
Die Entdeckung von Neve zeigt uns, dass auch die jüngsten Mitglieder der Gruppe ein individuelles Selbst und eine soziale Bedeutung für die Gruppe hatten.
Mutterschaft in der Vorgeschichte
Das Wissenschaftlerteam entdeckte in der Höhle von Arma Veirana die älteste weibliche Kinderbestattung in Europa – ein ungewöhnlicher Fund. Die Mutterschaft war in der Mittelsteinzeit nicht einfach. Wir können aus verschiedenen Funden erkennen, dass die Mutter das Baby immer bei sich trug. Hautkontakt war damals schon sehr wichtig. Wir werden nie erfahren, wie sich die Mutter am Tag des Todes ihres kleinen Mädchens fühlte. Doch die Funde, die auf sorgfältig vorbereitete Rituale hinweisen, zeugen von großer Mutterliebe und erinnern uns daran, wie zerbrechlich und wie wertvoll das menschliche Leben in jedem Alter ist.
Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.
- Gravel-Miguel, C., Cristiani, E., Hodgkins, J. et al. The Ornaments of the Arma Veirana Early Mesolithic Infant Burial. J Archaeol Method Theory (2022). https://doi.org/10.1007/s10816-022-09573-7