Der naive Realismus: Die Welt ist so, wie ich sie wahrnehme
Der naive Realismus geht davon aus, dass die Wirklichkeit so ist, wie wir sie wahrnehmen. Alternative Bezeichnungen für dieses Phänomen sind direkter oder klassischer Realismus. Ohne darüber nachzudenken, glauben wir oft, dass die Realität mit unserer subjektiven Erfahrung übereinstimmt. Das würde bedeuten, dass es nur eine Sichtweise gibt: Die Welt ist so, wie ich sie wahrnehme.
Ein typisches Beispiel für diese erkenntnistheoretische Position ist, dass ein Ball rot ist, weil er so ist, nicht weil du die Farbe so wahrnimmst. Es gibt also nur eine einzige Realität, die alle auf dieselbe Weise wahrnehmen. Doch was ist mit all den subjektiven Erfahrungen, Einstellungen und Ansichten, die wir zu dieser Realität beisteuern? Warum sehen wir bei optischen Täuschungen unterschiedliche Realitäten? Der naive Realismus wirft diese und viele andere Fragen auf.
Wir gehen anschließend im Rahmen der Theorie der Wahrnehmung näher auf diese erkenntnistheoretische Position ein und betrachten, wie sie sich in der Praxis auf die Sichtweise und das Verhalten von Menschen auswirkt.
Menschen, die nur eine einzige Perspektive zulassen, werden unserer komplexen Welt nicht gerecht. Wir können diese Personen mit einem Lächeln betrachten oder ihnen eine gewisse Unschuld zuschreiben, in Wirklichkeit handelt es sich jedoch um selbstzentrierte Menschen mit einer unvollständigen Sicht der Welt.
Der naive Realismus: Was ist das?
Der naive Realismus hat seine Wurzeln in der Theorie der Wahrnehmung. Wie bereits erwähnt, geht diese Position davon aus, dass wir mit unseren Sinnesorganen ein Spiegelbild der realen Außenwelt wahrnehmen. Einfach ausgedrückt: “Das, was ich sehe, höre, spüre, rieche, schmecke oder fühle, ist die einzige Wahrheit.”
In dieser naiven und egozentrischen Perspektive gibt es keinen Platz für Reflexion oder eine kritische Betrachtung. Vertreter dieser Position nehmen die Dinge als selbstverständlich hin: Wenn sie Werbung für das beste Shampoo im Fernsehen sehen, kaufen sie danach das beworbene Produkt. Lesen sie in sozialen Netzwerken eine schockierende Nachricht, nehmen sie diese als gegeben hin und teilen sie, ohne sie zu überprüfen.
Diese Mechanismen sind weitverbreitet: Viele Menschen sind leichtgläubig und davon überzeugt, dass die präsentierte Realität tatsächlich der Wahrheit entspricht. Sie stellen diese nicht infrage und betrachten jene mit misstrauischen Augen, die einen kritischen Blick darauf werfen oder andere Perspektiven aufzeigen.
Wenn du zu sehr auf deinen eigenen Standpunkt vertraust
Wir alle interpretieren unsere Realität, um diese zu verstehen – und das ist ein guter Ausgangspunkt. Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass andere Perspektiven immer bereichernd sind und ebenfalls der Realität entsprechen können.
- Wir müssen uns bewusst sein, dass wir bei der Interpretation der Realität jederzeit Fehler machen können.
- Außerdem müssen wir akzeptieren, dass unsere Wahrheit nicht die einzige ist, die es gibt.
- Wir müssen auch akzeptieren, dass nicht immer alles so ist, wie wir glauben oder erwarten, auch wenn dies schmerzhaft sein kann.
- Ohne einen kritischen (und selbstkritischen) Sinn stirbt die Intelligenz. Wir müssen das Relativieren und die Reflexion trainieren und für andere Möglichkeiten sowie Perspektiven offen sein. Diese Einstellung nährt die wahre Weisheit.
Wer sich einzig und allein auf seine eigenen Interpretationen, Rechtfertigungen und Meinungen verlässt, führt ein Leben in einem Raum mit geschlossenen Fenstern, der weder Licht noch Sauerstoff einlässt.
Der naive Realismus: die verzerrte Wirklichkeit
Die Psychologin und Publizistin Angela Duckworth von der Universität von Pennsylvania erklärt, dass wir in der Regel eine subtile Tendenz haben, unsere subjektive Perspektive mit der objektiven, universellen Realität zu verwechseln.
Wir sind so sehr an unsere Subjektivität gebunden, dass wir oft in einer völligen Irrealität leben. Wenn wir unsere Meinungen nicht überdenken, nicht akzeptieren, dass unsere Überzeugungen falsch sein könnten oder nicht verstehen, dass es immer gut ist, für andere Perspektiven offen zu sein, bleiben wir stecken. Wir isolieren uns in unserer eigenen Welt, die nicht real ist.
Intellektuelle Demut statt naiver Realismus
Es gibt mehr Farben als nur Schwarz und Weiß: In Wirklichkeit besteht die Welt aus vielen verschiedenen Farbtönen. Nur weil du eine Idee bis zum Äußersten verteidigst, heißt das nicht, dass sie am Ende auch wahr ist. Das Leben, die Realität, die wir wahrnehmen, ist variabel, verändert sich, bewegt sich, wandelt sich …
Der naive Realismus steht unserer Entwicklung im Weg. Eine wertvolle Strategie, die immer nützlich ist und die du praktizieren solltest, ist die intellektuelle Demut. Sie erinnert dich daran, dass wir alle fehlbar sind und dass andere Perspektiven bereichernd und nötig sind, um die Welt zu verstehen und zu entdecken.
“Geh nicht davon aus, dass Menschen, die anderer Meinung sind als du, naiv sind und von dir aufgeklärt werden müssen. Vergiss nicht, dass wir alle naive Realisten sind. Wir alle vergessen unsere eigene Subjektivität.”
Angela Duckworth
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