Der Etikettierungsansatz: die Stigmatisierung von abweichendem Verhalten

Die Etikettierung von Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, führt zu Ausgrenzung und Ablehnung.
Der Etikettierungsansatz: die Stigmatisierung von abweichendem Verhalten
Cristian Muñoz Escobar

Geschrieben und geprüft von dem Psychologen Cristian Muñoz Escobar.

Letzte Aktualisierung: 03. November 2022

Der Etikettierungsansatz erklärt, wie andere das Verhalten einer Person wahrnehmen und sie entsprechend ihrer Eigenschaften innerhalb sozialer und kultureller Konventionen etikettieren. Der zentrale Gedanke dieser Theorie ist, dass jeder, der von sozialen Normen “abweicht” (Devianz), die dem gesunden Menschenverstand der Gesellschaft entsprechen, negativ etikettiert wird.

Die Soziologie untersucht soziale Konventionen, Normen und Abweichungen: Wenn das Aussehen oder das Verhalten einer Person nur einer sozialen Minderheit entspricht, wird sie negativ etikettiert, weil sie nicht den Standards und der Kultur der dominanten Gesellschaft entspricht.

Was bedeutet es nun, jemanden zu etikettieren, der nicht Teil einer Mehrheitsgemeinschaft ist?

Der Etikettierungsansatz: ein kurzer geschichtlicher Überblick

Howard Saul Becker, ein amerikanischer Soziologe, Erbe der Chicagoer Schule und des symbolischen Interaktionismus, hat eine Theorie zur Devianz entwickelt. Nach seinen Forschungen über soziale Gruppen und ihre Interaktionen ist die Abweichung von der sozialen Norm kein Zustand, der einer Person innewohnt, sondern die Identifizierung dieser Person durch eine Kollektivität, die sich im Einklang mit dem “sozialen Miteinander” zu bestimmten Normen bekennt.

Daher wird diese Kollektivität oder soziale Mehrheit dazu neigen, eine Person oder eine Minderheit zu sanktionieren, wenn sie gegen ihre Normen verstößt und von ihren sozialen Sitten abweicht. In der oben beschriebenen Situation wäre eine Etikettierung mit stark diskriminierendem Charakter unvermeidlich.

Die Rolle von Stereotypen

Es ist üblich, eine Person aufgrund ihrer Eigenschaften entsprechend der Minderheitengruppe, zu der sie gehört, zu stereotypisieren. In diesem Fall sondert die gesellschaftliche Mehrheit sie aus und verallgemeinert sie unter den Wahrnehmungsparametern, die sie über ihre Normen und Gebräuche hat.

Der Hauptzweck besteht darin, diese Person als Normübertreter abzustempeln, da sie sich nicht an das hält, was die Mehrheit vorschreibt, selbst wenn dies bedeutet, sie auf diskriminierende Weise zu stigmatisieren.

Etikettierungsansatz: Frau leidet durch abweichendes Verhalten
Etiketten stellen eine Unterscheidung einer Person in Bezug auf die soziale und kulturelle Gruppe her, zu der sie gehört.

Primäre und sekundäre Devianz

Wir können Devianz in zwei Arten einteilen: primäre und sekundäre. Edwin Lemert (1912-1996), Professor für Soziologie an der University of California, definierte sie wie folgt:

  • Primäre Abweichung: Die Abweichung wird von dem Normbrecher nicht in vollem Umfang wahrgenommen und auch nicht von anderen (der gesellschaftlichen Mehrheit) als solche empfunden.
  • Sekundäre Abweichung: Im Gegensatz zur primären Abweichung wird der Normbrecher von der gesellschaftlichen Mehrheit als abweichend eingestuft und nimmt sich daher selbst so wahr, wie andere ihn sehen.

Praktisch alle Personen handeln irgendwann abweichend: manche brechen eine Verkehrsregel, andere malen ein Graffiti auf eine Wand oder nehmen verbotene Substanzen ein. Einige wenige mit sehr charakteristischen Merkmalen werden jedoch als absolute Abweichler, als Regelbrecher, in eine Schublade gesteckt.

Der Ettiketierungsansatz: Stigmatisierung und Klassifizierung

Ein Stigma, das eng mit der sekundären Devianz zusammenhängt, ist die Rolle, die der abweichenden Person zugewiesen wird und die dazu dient, ihr Leben zu entstellen. Jede Handlung, die von der Norm abweicht, gilt als negativ.

So werden die dominante Rolle des Einzelnen und alle seine vergangenen Handlungen aus der Perspektive der Stigmatisierung neu interpretiert. Dabei handelt es sich um einen Prozess der biografischen Verzerrung, der als retrospektive Etikettierung bekannt ist.

Laut dem Soziologen Erving Goffman (1922-1982) löst die Stigmatisierung einer Person bestimmte soziale Auswirkungen aus, unter anderem die soziale Isolation, die von einer Gruppe vorangetrieben wird, die sich mit der Ablehnung des Abweichlers (Stigmatisierten) identifiziert. Das hätte zur Folge, dass der Abweichler, wenn er einschränkende Signale erhält, diese schließlich glaubt und die Rolle annimmt, die ihm von den Stigmatisierern aufgezwungen wurde. Sie sind wie Propheten, die die endgültige Rolle voraussehen, die der Abweichler gemäß Robert K. Mertons Thomas-Theorems annehmen wird.

Der Etikettierungsansatz in der Kriminologie

Die unglückliche prophetischen Rolle der Stigmatisierer gegenüber den Abweichlern (selbsterfüllende Prophezeiung) könnte dazu führen, dass die etikettierte Person kriminelle Handlungen ausführt, die ihr die stigmatisierende Gruppe aufgezwungen hat. Wenn sie zum Beispiel nur einmal Drogen genommen hat, dafür aber immer wieder von einer Mehrheit schikaniert wird, wird sie wahrscheinlich beginnen, regelmäßig zu konsumieren und erfüllt damit unbewusst ihre Rolle.

Mit dem Etikettierungsansatz kann die Kriminologie die Verhaltensmuster mancher Menschen teilweise vorhersagen, denn die stigmatisierende Prophezeiung kann sich erfüllen. Die Abweichler geraten in einen Teufelskreis, der sich ständig wiederholt.

Der Etikettierungsansatz in der Psychologie

Der Etikettierungsansatz geht davon aus, dass sich die sekundäre Devianz auch auf die psychische Gesundheit auswirken kann. Erinnern wir uns daran, dass die Funktion der gesellschaftlichen Mehrheit darin besteht, die als abweichend abgestempelte Person abzulehnen und zu isolieren, eine Situation, die bei der Person, die diese Rolle annimmt und darunter leidet, zu einer psychischen Störung führen kann.

Derselbe Isolationsmechanismus kann jedoch auch auf Personen zutreffen, die keine mentale Stabilität aufweist oder von anderen als psychisch krank betrachtet wird. Wenn eine Person mit einer Zwangsstörung stigmatisiert wird, obwohl sie nur vereinzelte Merkmale aufweist, kann sie dadurch tatsächlich eine Zwangsstörung entwickeln. Auch hier beobachten wir die selbsterfüllende Prophezeiung.

Der Etikettierungsansatz in der Psychologie 
Wenn eine Person etikettiert wird, besteht in der Regel die Tendenz, sie abzulehnen und auszugrenzen.

Der Ettikettierungsansatz: Wie können wir die Etikettierung vermeiden?

Natürlich hat die Mehrheit nicht immer recht, vor allem dann nicht, wenn nicht jedes Mitglied der Mehrheit eigene Kriterien oder einen kritischen Sinn dafür hat, was als “abweichend” gilt. Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass Menschen, die von Natur aus politische und soziale Subjekte sind, dazu neigen, in irgendeiner Form Anerkennung zu suchen. Deshalb ist es nicht richtig, Personen in eine Schublade zu stecken, die sich außerhalb der von der Mehrheit gebilligten Norm bewegen.

Eine kritische Haltung gegenüber der kollektiven Stigmatisierung einer Einzelperson oder einer Minderheit bedeutet, von ihnen zu erwarten, dass sie Gewohnheiten annehmen, die schlecht oder kontraproduktiv für ihre körperliche und geistige Gesundheit sein können. Wenn sie die Norm der gesellschaftlichen Mehrheit nicht erfüllen, folgt eine Bestrafung.

Diagnose und Prävention von individuellem und kollektivem Verhalten sind die wichtigsten Instrumente, um den Teufelskreis der Stigmatisierung zu durchbrechen und kollektives Verhalten zu verhindern, das jene Personen wahllos verurteilt, die von der gesellschaftlichen Konventionen und Norm abweichen.


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