Autonomie und Heteronomie: ein wichtiger Unterschied

Autonomie bezeichnet die Fähigkeit, unabhängig zu handeln und zu denken. Heteronomie ist das Gegenteil.
Autonomie und Heteronomie: ein wichtiger Unterschied
Gema Sánchez Cuevas

Geprüft und freigegeben von der Psychologe Gema Sánchez Cuevas.

Geschrieben von Edith Sánchez

Letzte Aktualisierung: 05. Februar 2024

Jean Piaget war ein Schweizer Psychologe und Lehrer, der sich unter anderem für das Thema der moralischen Urteile interessierte. Um zu erklären, wie wir zu moralischen Urteilen kommen, entwickelte Piaget das Konzept der Autonomie und Heteronomie. Es bezieht sich darauf, wie eine Person moralische Standards erlernt und anwendet. Aus Piagets Perspektive ist diese ethische Entwicklung eng mit der der Intelligenz verbunden und sollte uns von der moralischen Abhängigkeit von anderen zur Unabhängigkeit führen.

Laut Piaget haben Kinder, kurz nach der Geburt, noch nicht die geistigen Fähigkeiten entwickelt, um moralische Kategorien wie “gut” oder “böse” zu verstehen. In der Soziologie wird das Fehlen bzw. der Mangel an Regeln, Ordnung und Normen als Anomie bezeichnet. So handelt ein Baby einfach nach seinen eigenen Bedürfnissen, unabhängig davon, ob das, was es tut, andere beeinflusst.

“Die beste Regierung ist diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu reagieren.”

Johann Wolfgang von Goethe 

Wenn das Kind heranwächst, wird es sich des moralischen Wertes seiner Handlung bewusst. Die Eltern und Lehrer sowie andere Autoritätspersonen sind dafür verantwortlich, dem Kind moralisches Bewusstsein zu vermitteln. Das Kind handelt dann entsprechend dem, was seine Bezugspersonen wohlwollend oder ablehnend betrachten. Dieses Verhalten wird als Heteronomie bezeichnet.

Später, wenn der Entwicklungsprozess des Gehirns abgeschlossen ist, tritt das Kind in eine neue Entwicklungsphase ein. Nun erlangt es allmählich Autonomie in Bezug auf die Bildung von ethischen und moralischen Prinzipien. Das bedeutet, das Kind lernt, auf der Grundlage dessen zu handeln, was sein eigenes Gewissen ihm vorschreibt.

Autonomie, Heteronomie und die Evolution von Regeln

Nach Piagets Sicht wandelt sich unser Verständnis von “Regeln” entsprechend unserer moralischen Entwicklung. Die meisten Regeln sind solche Anweisungen, die positive Verhaltensweisen von Individuen bzw. Gruppen auslösen und fördern. Wir glauben, dass Regeln legitim und universal seien, wenn sie existieren, um Konflikte zu vermeiden, um Wachstum, Respekt und vor allem Gerechtigkeit zu fördern. Es ist wichtig, dies im Hinterkopf zu behalten, da es auch destruktive Regeln gibt.

Ein surreales Bild, dass einen Sonnenaufgang zeigt, der durch ein aufgeschlagenes Ei dargestellt ist.

Es gibt mehrere Formen von Regeln. Eine davon ist die sogenannte “automatische Regel”. Diese Regel basiert auf einfachen, grundlegenden Vorschriften. Der Erwachsene muss direkt oder körperlich eingreifen, um sie durchzusetzen. Da ist zum Beispiel das Kind, das auf die Straße rennen will, und der Erwachsene, der es festhält, um dies zu verhindern.

Als Nächstes wären die “Zwangsregeln” zu nennen. Diese bestimmen vorwiegend die ersten Jahre unserer Kindheit. In diesem Stadium folgen wir einer Norm, nur weil ein Erwachsener uns sagt, was wir tun müssen. Wir denken nicht einmal daran, diese Regeln infrage zu stellen, denn alles, was ein Erwachsener über Moral sagt, scheint uns unfehlbar zu sein. Für das Kind ist das Brechen einer Regel, wie absurd auch immer sie scheinen mag, ein Grund, bestraft zu werden. Dies ist die Operationsebene der Heteronomie.

Letztlich lernen wir aber, autonom zu handeln. Dann wenden wir “rationale Regeln” an. Diese Regeln werden nicht von anderen durchgesetzt, sondern von uns selbst, je nachdem, was wir denken. Auf dieser Entwicklungsstufe sind wir uns des Wertes der Norm bewusst, die unsere Handlung bestimmt. Wenn die Regel oder Norm irrational ist, folgen wir ihr nicht, handeln also autonom und nicht aufgrund einer Autorität. Unser Gehorsam ist nicht länger bedingungslos.

Recht, Gerechtigkeit und Kooperation

Für diejenigen Menschen, die die Phase der Heteronomie nicht überwunden haben, ist das Gute das, was die Mehrheit ihrer Mitmenschen einer Autorität folgend tut. Der Einzelne glaubt dann, dass eine Regel existiere, weil sie gut sei. Das Vorhandensein der Regel und ihr moralischer Wert werden nicht hinterfragt, sondern hingenommen. Dies gilt nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Das erklärt, warum viele Menschen und Gesellschaften aufgrund bestimmter Regeln sogar gegen ihre eigenen Interessen handeln können.

Eine Statue, die Gerechtigkeit symbolisiert

Wie oben erwähnt, ist ein Merkmal der Heteronomie, dass die Regel nicht auf ihre Motivation hin überprüft wird. Das Einzige, was überprüft wird, ist das Ergebnis des Verhaltens. Eine Geschichte, die Piaget Kindern erzählte und die von zwei kleinen Jungen namens Augustus und Julian handelt, verdeutlicht diesen Punkt: Augustus stellt eines Tages fest, dass das Tintenfass des Vaters leer ist, und beschließt, diesem einen Gefallen zu tun und es wieder aufzufüllen. Aber als er die Tintenflasche öffnet, verschüttet er die Tinte und ein großer Fleck entsteht auf dem Tischtuch. Julian hingegen spielt mit dem Tintenfass des Vaters und malt absichtlich einen kleinen Tintenfleck auf die Tischdecke.

Piaget fragte dann Kinder unterschiedlichen Alters, welcher der beiden Jungen unartiger gewesen wäre. Kinder, die sich immer noch in der Phase der Heteronomie befanden, antworteten generell, dass der Junge, der unbeabsichtigt einen großen Fleck gemacht hatte, ungezogener gewesen wäre.

Eines der Kennzeichen der Heteronomie ist ihre mangelnde Flexibilität. Keine Absichten, keine Kontexte, keine Gründe werden in die Bewertung einbezogen. Das Einzige, was gesehen wird, ist, inwieweit eine Norm befolgt wird. Diesem Wertungssystem folgen viele Erwachsene, wenn sie zum Beispiel Untreue oder anderen menschlichen Versäumnissen begegnen.

Wenn wir aber die autonome Phase erreicht haben, spielt auch die Absicht eine Rolle in unserem Urteilsprozess. Ebenso ist Gerechtigkeit von Bedeutung. Wenn ein Verhalten gegen die Regeln verstößt, aber Gerechtigkeit fördert, ist es angemessen. Moral gilt als ein Mittel, Gleichheit, Kooperation und Respekt zu fördern. Ob die Moral dann auch einer Regel entspricht, ist weniger wichtig. In diesem Sinne würden wir sicherlich bessere Gesellschaften aufbauen, wenn wir unsere individuelle Autonomie stärken würden.


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.