Auch Psychologen weinen

Auch Psychologen weinen

Letzte Aktualisierung: 13. Juni 2017

Wir Psychologen sagen immer, wie wichtig Gefühle sind, wie wichtig es ist, sie so zu akzeptieren wie sie sind, sie zu beobachten und fließen zu lassen. Wir laden unsere Patienten dazu ein, sie so auszudrücken, wie sie sie auch verspüren. Wir öffnen die Tür unserer Praxis, damit sie eintreten und uns ihr Herz öffnen. Wir erlauben ihnen, zu fühlen, und sie sprechen, lachen, weinen oder werden wütend, wenn sie das nun einmal brauchen.

Wenn wir damit beginnen, ahnen wir niemals, wie viele Emotionen in vier Wände passen können.

In der Universität lernen wir etwas über die Bewertung, über Störungen und Techniken, doch wir lernen nur sehr wenig darüber, welche Emotionen wir in einer Therapie empfinden und wie wir mit ihnen umgehen sollen. Doch ich will ehrlich sein, alle Zeit der Welt hätte nicht gereicht, um uns auf den Wirbelsturm der Gefühle vorzubereiten, der uns dort erwarten sollte.

In erster Linie sind wir Menschen und erst dann Psychologen

Wir sind Menschen – das ist unsere große Tugend, aber gleichzeitig auch die Quelle vieler Schwierigkeiten, denen wir uns stellen müssen. Dieser menschliche Teil erlaubt uns, zu verstehen und uns in die Lage des anderen hineinzuversetzen, und es ist genau dieser Teil von uns, der sich hin und wieder dazu entschließt, sich in Form von unerwartetem Weinen auszudrücken.

In einer Therapie lassen wir unsere Bedürfnisse beiseite, um unseren Patienten Priorität einzuräumen. Doch die gegenwärtige Situation unseres Patienten ist uns nicht egal. Auch wenn wir auf eine andere Art und Weise emotional werden, werden wir es, wenn sich derjenige uns gegenüber öffnet und uns seine intimsten Gedanken und Gefühle im Hinblick auf Ereignisse mitteilt.

Und manchmal weinen wir wegen der Geschichte dieses Menschen. Ab und an passiert das während einer Sitzung vor dem Patienten, andere Male bevorzugen wir es, unseren Gefühlen freien Lauf zu lassen, wenn wir für uns sind.

Die Geschichte jedes Patienten hat drei Teile

Wenn der Patient die Praxis verlässt, dann bleibt ein dreiteiliges Erbe: Einen Teil nimmt der Patient wieder mit, ein anderer bleibt in der Praxis und der letzte verbleibt beim Therapeuten.

Wir Therapeuten nehmen einen Teil des Lebens des Patienten mit nach Hause. Nach einem Treffen von Angesicht zu Angesicht denken wir über das nach, was uns erzählt wurde und wie wir deswegen gefühlt haben. Wir versuchen uns davon zu distanzieren, probieren alle möglichen mentalen Übungen und therapeutischen Herangehensweisen aus, denken an diesen Menschen und überlegen, wie wir ihm bestmöglich helfen und ihm die Unterstützung geben können, die er braucht.

Wir denken nicht nur aus therapeutischer Sichtweise über den Fall nach, sondern oftmals beeinflusst das auch unsere Gefühlswelt. Wegen einiger Fälle sind wir frustriert, wir fühlen uns schuldig und unser Kopf grübelt ständig über „vielleicht…“ und „wenn…“ nach.

Das Gewicht eines Wasserglases

Man sagt, dass es nicht das Gewicht ist, das den Körper leiden lässt, sondern die Zeit, in der wir es mit uns herumtragen. Wie bei der Metapher vom Wasserglas, bei der nicht das Gewicht dieses Glases zählt, sondern die Zeit, in der es ein Mensch in seiner Hand hält.

Ich kann das Glas problemlos eine Minute lang halten. Wenn ich es eine Stunde lang in der Hand halte, beginnt mein Arm zu schmerzen. Wenn ich es einen gesamten Tag lang halte, schläft mein Arm ein und wird taub.

Manchmal nehmen wir Psychologen ein Glas in die Hand, das nicht uns gehört, welches wir aber eine lange Zeit halten. Es fällt uns schwer, es nicht fallen zu lassen und unseren Arm am Taubwerden zu hindern, und oftmals ist es notwendig, dass wir selbst oder die Hand eines Freundes uns dabei hilft, das Gewicht des Glases zu halten.

Mehr ist weniger

Damit ist das Gewicht des Gepäcks gemeint, das weniger schwer lastet, wenn wir es auf mehrere Personen verteilen. Auch wir Psychologen brauchen das Gefühl, dass man uns zuhört, müssen über unsere Sorgen reden und unseren eigenen Bedürfnissen in diesen Momenten Priorität einräumen.

Viele Psychologen suchen einen anderen Psychologen auf, damit er ihnen einen professionellen Rat gibt und um ihm seine Emotionen und Sorgen mitzuteilen.

Es gibt einen Spruch, der besagt, „Teilen ist Leben“ und wenn wir von Gefühlen sprechen, trifft das auf jeden Fall zu. Denn wir Psychologen sind auch nur Menschen, die weinen und emotional werden. Das Leben lässt uns nicht kalt und so wie jeder andere gehen wir auf unsere Weise mit unserer Geschichte und der anderer um.

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