Aphantasie: der blinde Geist oder ein Leben ohne mentale Bilder

Ein kleiner Teil der Bevölkerung lebt, ohne zu wissen, was es heißt, von Bildern zu träumen. Betroffene können sich das Gesicht anderer Menschen nicht vorstellen, das Bild ihrer Wohnung nicht abrufen und nicht träumen. Wir sprechen heute über Aphantasie oder Geistesblindheit.
Aphantasie: der blinde Geist oder ein Leben ohne mentale Bilder
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 13. März 2023

Rund 3 % der Bevölkerung leiden an Aphantasie: Sie haben kein oder ein sehr abgeschwächtes bildliches Vorstellungsvermögen. Betroffene leben in einer formlosen Leere, in der es keine klaren Bilder, Gesichter oder Szenarien gibt. Sie wissen nicht, was es heißt zu träumen und sie sind noch nie gedanklich in ein friedliches Szenario geflohen, in dem sie ihren Stress abbauen oder sich in Paralleluniversen verlieren können.

Dieser Zustand mag uns am seltsamsten erscheinen. Doch hinter dieser Besonderheit liegt die Dramatik oder zumindest die Traurigkeit. Betroffene sind auf ihrem inneren Auge blind: Sie können das Bild ihrer verstorbenen Eltern oder eines lange nicht gesehenen Menschen nicht in ihrer Vorstellung abrufen. Menschen, die mit dieser Besonderheit zur Welt kommen, vermissen diese Vorstellungskraft nicht, da sie sie nicht kennen. Doch auch traumatische Gehirnverletzungen können Aphantasie verursachen.

Betroffene Kinder fühlen sich fremd und in eine Ecke gedrängt. Sie wissen bereits sehr früh, dass etwas nicht stimmt, denn sie haben keine Träume und können sich nicht visuell an Dinge erinnern, die sie gesehen haben. In ihrem Geist existiert der unterhaltsame Tag im Park oder am Strand nicht. Sie fühlen sich seltsam, wenn andere davon berichten. Wir sprechen heute von einer Realität, die den Alltag der betroffenen Menschen stark prägt. Begleitest du uns, um mehr darüber zu erfahren?

Aphantasie: der blinde Geist oder ein Leben ohne mentale Bilder

Aphantasie – eine Innenwelt ohne Bilder

Neurologen definieren Aphantasie als eine Art geistiger Blindheit. Es überrascht nicht, dass uns dieser Begriff beeindruckt und viele Fragen aufwirft: Wie sieht das Leben von Menschen mit dieser Krankheit aus? Ist Aphantasie angeboren? Welche Ursachen verbergen sich hinter dieser Störung?

Seit 2016 wird die Aphantasie eingehender untersucht, doch wir wissen bereits seit 1840 von ihrer Existenz: Sir Francis Galton, der berühmte britische Psychologe, Anthropologe, Forscher und Genetiker, beschrieb mehrere Fälle und erstellte sogar eine statistische Analyse. Damals schätzte er, dass zwischen 2 und 3 % der Bevölkerung an dieser Krankheit leiden könnten.

Erst 2016 interessierte sich die wissenschaftliche Gemeinschaft erneut für die Aphantasie. Dr. Adam Zeman, ein Kognitionspsychologe an der Universität von Exeter, prägte schließlich diesen Begriff. Im selben Jahr veröffentlichte Blake Ross, Miterfinder von Firefox, einen Aufsatz, in dem er seine eigenen Erfahrungen mit dieser neuen neurologischen Erkrankung beschrieb. Dank seiner Arbeit wurde die Aphantasie in den sozialen Medien zum viralen Phänomen und zog das Interesse weiterer Experten auf sich.

Was ist der Ursprung der Aphantasie?

“Stell dir zwei Äpfel vor, einen grünen und einen leuchtend roten.” Aus Statistiken geht hervor, dass 97 % der Bevölkerung das Bild der Äpfel beim Lesen dieses Satzes sofort vor ihren Augen haben. Menschen mit Aphantasie sind jedoch nicht in der Lage, den neurologischen Mechanismus zu aktivieren, der ihnen die Vorstellung dieses Bildes ermöglicht: Das Bild existiert in ihrem Gehirn nicht.

Forschende gehen davon aus, dass Betroffene nicht fähig sind, Muster über visuell aufgenommene Informationen zu erstellen. Im Normalfall erzeugt jeder visuelle Reiz eine Wirkung in unserem Gehirn, einen Abdruck, den wir wieder abrufen können. Die meisten Menschen können diese mentalen Bilder unmittelbar erzeugen.

Menschen mit Aphantasie erzeugen keine visuellen Muster. Wir sprechen von einer partiellen Blindheit: Betroffene sehen zwar die Bilder der Außenwelt, dennoch können sie keine inneren Bilder erzeugen. Es handelt sich um eine komplexe Fähigkeit, an der viele Gehirnbereiche beteiligt sind. Die genaue neuronale Grundlage der Aphantasie ist noch nicht ausreichend geklärt. Forschende vermuten, dass die Hirnregionen der visuellen Vorstellungskraft nicht ausreichend aktiviert werden können. Betroffene können zwar mentale Bilder erleben, haben aber keinen bewussten Zugang zu diesen Vorstellungen.

Frau mit Aphantasie

Wie sind Menschen mit dieser neurologischen Krankheit?

Das Leben mit Aphantasie ist nicht eingeschränkt. Betroffene können Kontakte knüpfen, in allen Lebensbereichen selbstständig sein, arbeiten und erfolgreich sein wie jeder andere Mensch auch. Sie wissen jedoch, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Was Adam Zeman selbst hervorhebt, ist die positive Reaktion derjenigen, die endlich einen Namen und eine Erklärung für dieses Phänomen haben, das sie lange nicht definieren konnten.

  • Aphantasie-Patienten sind grundsätzlich unfähig, sich an Bilder zu erinnern. Sie sind nicht in der Lage, Gesichter abzurufen, was oft zu Unbehagen und unangenehmen Situationen führt.
  • Während die meisten Personen fähig sind, sich unzählige innere Bilder zu generieren, können Menschen mit Aphantasie nicht einmal mit Bildern träumen.
  • Besonders kompliziert ist diese Situation für Personen mit erworbener Aphantasie, die daran nach einem Unfall oder einer Gehirnverletzung leiden.
  • Andererseits hat sich gezeigt, dass dieses neurologische Defizit auch mit Prosopagnosie (Schwierigkeiten beim Erkennen von Gesichtern) und mit Orientierungsproblemen zusammenhängt.

Anzeichen

Folgende Fragen können dir helfen, eine mögliche Aphantasie zu erkennen:

  • Versuche, dir das Bild eines Menschen vorzustellen: Wie deutlich kannst du seine Gesichtszüge, Haare und andere Details erkennen?
  • Wie deutlich kannst du dir seine Bewegungen und Gesten vorstellen?
  • Kannst du dir die Kleidung, die diese Person trägt, lebhaft vorstellen?

Wenn du Schwierigkeiten hast, dir diese Details vorzustellen, kannst du jederzeit fachärztlichen Rat in Anspruch nehmen. Du musst jedoch wissen, dass es derzeit keine Behandlung für Aphantasie gibt. 


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  • Zeman, A., Dewar, M., & Della Sala, S. (2016). Reflections on aphantasia. Cortex74, 336-337.

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