Woher kommt die Willenskraft?

Woher kommt die Willenskraft?

Letzte Aktualisierung: 16. Mai 2017

Auch wenn wir den Begriff Willenskraft oft benutzen, ohne darüber nachzudenken, handelt es sich dabei dennoch um ein sehr umstrittenes Konzept.

Vom philosophischen Standpunkt aus gesehen, stammt das Konzept des Willens aus der Metaphysik, und zwar von Aristoteles. Von dort aus floss es in die verschiedenen westlichen Religionen ein und verwandelte sich in eine Tugend allererster Klasse.

„Darum lässt sich das Verhältnis des Willens zum Intellekt nicht treffender ausdrücken als in dem Gleichnis vom Blinden, der den Lahmen auf seinen Schultern trägt.”

Arthur Schopenhauer

Der Wille und die Willensstärke definieren sich als die Fähigkeit, die eigenen Handlungen zu leiten und zu kontrollieren.

Die Metaphysik und die Religionen weisen darauf hin, dass diese Kraft ausschließlich aus dem freien Entschluss eines jeden Menschen erwächst.

Die Psychoanalyse hingegen hat aufgrund der Entdeckung des Unbewussten ernsthafte Bedenken sowohl gegen das Konzept des Willens als auch gegen das der Willensstärke.

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Was sich der Kontrolle entzieht

Für die Psychoanalyse sind die bewussten Prozesse nur die Spitze des Eisbergs der mentalen Aktivität. In Wirklichkeit werden Gedanken und Handlungen von einer Kraft bestimmt, die nicht dem Willen, sondern dem Unbewussten entspringt.

Diese Entdeckung half, viele Tatsachen zu erklären. Zum Beispiel den „lapsus linguae” oder andere Situationen, in denen eine Person etwas sagen möchte, aber ungewollt etwas ganz anderes ausspricht.

Das Unbewusste ist auch verantwortlich für andere sogenannte „Fehlleistungen”: Eine Person nimmt sich bewusst vor, etwas Bestimmtes zu tun, macht aber am Ende etwas völlig anderes.

Dies sehen wir täglich in unserem Alltag. Jemand möchte pünktlich zu seiner Verabredung kommen, aber „ohne es zu wollen“ verspätet er sich oder kommt niemals an. Oder diejenigen, die „ihre ganze Kraft in die Arbeit stecken“, letztendlich aber doch während der Arbeitszeit mit so vielen anderen Dingen beschäftigt sind.

Für die Psychoanalyse ist der Wille keine Kraft, sondern der Ausdruck eines unbewussten Wunsches. Erst dann, wenn die Person konsequent ist mit ihrem Wunsch, nimmt sie den Willen in Anspruch. Wenn es nicht so ist, „verrät sie diese, Wille,”.

Daher gibt es Pläne, die immer aufgeschoben werden, Veränderungswünsche, die niemals Wirklichkeit werden, oder Absichten, die sich niemals in Handlungen verwandeln.

Die östlichen Philosophien wie zum Beispiel Zen gehen in ihren Praktiken auch niemals auf die sogenannte Willenskraft ein. Sie verfechten, dass es sich dabei um eine Autoaggression handele, die durch das Verständnis und die Liebe ersetzt werden sollte, die letztendlich die Kräfte sind, die zum Handeln führen.

Der Wille und das Bewusstsein

Die Psychoanalyse und die östlichen Philosophien sind sich darüber einig, dass der Wille keine Kraftanstrengung ist, und dass er hingegen nur aus dem Verständnis und daher aus dem Bewusstsein entspringen kann.

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Wenn es klar definierte und bewusste Vorsätze gibt, die sich aber nicht in Handlungen übersetzen, besteht die Lösung nicht darin, uns anzustrengen und in die Pflicht zu nehmen, auf eine bestimmte Weise zu handeln.

Solche Situationen tragen eine sehr wertvolle Botschaft in sich. Es gibt „etwas”, das unseren Willen blockiert, auf eine bestimmte Weise zu handeln. In Wirklichkeit fehlt hier nicht die Willensstärke, sondern es siegt ein Wunsch, dessen wir uns nicht bewusst sind.

Wir wollen rigoros eine Diät machen, aber gleichzeitig wollen wir uns vollessen. Wir beginnen mit der Diät, aber früher oder später – eher früher – erwischen wir uns dabei, wie wir uns eine köstliche „letzte“ Henkersmahlzeit genehmigen, zwischen Schuldgefühlen und Befriedigung.

Was hier geschieht, ist, dass wir verstandesgemäß die Vorteile einer gesunden Ernährung erfasst haben, aber wir haben unseren Wunsch, uns satt zu essen, nicht wahrgenommen. Vielleicht bedeutet das Essen in diesem Beispiel auch viel mehr als nur den Geschmack oder das Völlegefühl im Magen.

Vielleicht kann uns diese zwanghafte Handlung etwas über einen tief sitzenden Wunsch mitteilen, der die Willenskraft auf ein nichts reduziert.

In diesen Fällen kommt uns der Willen nicht zu Hilfe. Wenn das, was wir tun, sich unserem bewussten Willen entgegen stellt, kann man nicht von einer Charakterschwäche sprechen, sondern von einem Symptom des Unbewussten. Wenn dieses Symptom entschlüsselt und verstanden wird, verschwindet es auch.

Vielleicht müssen wir uns weniger anstrengen und uns dafür mehr Verständnis entgegen bringen, damit sich unsere guten Absichten in die entsprechenden Handlungen übersetzen. Und damit diese Handlungen kohärent sind mit dem, was wir wirklich in unserem Leben wollen.


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.