Wie sich ein psychisches Trauma auf die Selbstwahrnehmung auswirkt
Der Begriff psychisches Trauma beschreibt eine seelische Verletzung, die durch ein stark belastendes Ereignis ausgelöst wird. Diese Ausnahmesituation hinterlässt tiefe Spuren, die Auswirkungen hängen jedoch stark von den Umständen und der individuellen Wahrnehmung der Situation ab. Nach einer traumatischen Erfahrung reagieren Betroffene bei den kleinsten Anzeichen einer Bedrohung mit Schutzmechanismen, erleben jedoch auch körperliche Symptome.
Wir analysieren heute die Auswirkungen einer traumatischen Erfahrung auf die Selbstwahrnehmung.
“Durch ein Trauma fühlen wir uns von unserem Körper, von anderen und von der Welt abgekoppelt, und zur Heilung gehört es, diese Teile wieder miteinander zu verbinden.”
Bessel Van der Kolk
Psychisches Trauma und posttraumatische Belastungsstörung
In einer lebensbedrohlichen Situation reagiert das Gehirn in wenigen Sekunden: Die Kampf-Flucht-Kälte-Reaktion soll das Überleben sichern. In diesem Augenblick bleibt keine Zeit, um logische oder überlegte Lösungen zu suchen. Wir sind auch nicht in der Lage zu bewerten, ob es sich um eine reale oder irrationale Gefahr handelt, da wir das Gefühl haben, dass unser Leben bedroht ist.
Während und nach dieser traumatischen Erfahrung erleben wir Schmerz, Wut und Hilflosigkeit. Die erlebte Angst prägt sich tief in unser Bewusstsein ein. Dies hat zur Folge, dass traumatisierte Personen in Situationen Angst erleben, die nicht lebensbedrohlich sind und im Normalfall keine Schutzreaktion auslösen. Ein Beispiel dafür ist ein Kriegsveteran, der jedes Mal in Panik gerät, wenn er das Geräusch eines Ventilators hört, weil er dadurch an einen Kampfhubschrauber erinnert wird, in dem alle seine Kameraden ums Leben kamen.
Harmlose Situationen können nach einer traumatischen Erfahrung Symptome wie Herzrasen, Panikattacken, Beklemmung und tiefgehende Angst auslösen. Die betroffene Person erstarrt schließlich, denn sie wird von ihrer eigenen Amygdala (Mandelkern) gefangen genommen. Diese Gehirnstruktur ist Teil des limbischen Systems und für die emotionale Bewertung von Situationen zuständig. Wenn Gefahr droht, lässt sie uns zusammenzucken oder Angst fühlen.
“Angst ist ein leistungsfähiges und wichtiges Gefühl, das uns davor schützt, ein Risiko einzugehen und uns in Gefahr zu begeben. Es ist ein natürlicher Teil des menschlichen Erlebens und kann uns helfen, uns in bestimmten Situationen zu schützen.”
Dr. Christina Lasich
Psychisches Trauma und Selbstwahrnehmung
Wie wir gesehen haben, ist die Amygdala für die Angstreaktion verantwortlich, die uns vor bedrohlichen Situationen schützen soll. Doch welches Gehirnareal bringt uns wieder zur Vernunft und hilft uns, unsere Emotionen zu kontrollieren? Eine der dafür verantwortlichen Strukturen ist der mediale präfrontale Cortex (MPFC), der eine zentrale Rolle bei der Selbstwahrnehmung spielt (Van der Kolk, 2020).
Bessel van der Kolk¹, einer der bekanntesten Traumatherapeuten, erinnert uns daran, dass ein psychologisches Trauma bestimmt, wie wir uns selbst und unser Umfeld wahrnehmen. Die Selbstwahrnehmung ist vernebelt, Betroffene lassen sich von Frustration, Angst oder Wut leiten und zeigen oft intensive körperliche Reaktionen. Auch ihre Konzentrations- und Erinnerungsfähigkeit ist beeinträchtigt, außerdem fällt es ihnen schwer, Vertrauen zu anderen aufzubauen.
Traumatisierte Personen versetzen vermehrt Stresshormone frei, was ihre Wahrnehmung beeinträchtigt. Sie neigen deshalb dazu, in allem, was passiert oder was sie erleben, ihr Trauma zu sehen. Van der Kolk weist auf die Notwendigkeit hin, die Fähigkeit wiederherzustellen, “zu wissen, was man weiß, und zu fühlen, was man fühlt”. In einer Therapie geht es also unter anderem darum, die Selbstwahrnehmung zu verbessern und zu stabilisieren.
“Die körperliche Selbstwahrnehmung bringt uns in Kontakt mit unserer inneren Welt, mit der Landschaft unseres Organismus.”
Bessel Van der Kolk
Die verzerrte Selbstwahrnehmung und die Angst, emotional zu werden
Vermeidungs- und Verdrängungsstrategien sind kontraproduktiv, denn sie verstärken das Gefühl der Angst. Traumatisierte Menschen müssen lernen, sich mit ihren Gefühlen zu verbinden, um ihre Selbstwahrnehmung zu heilen. Van der Kolk erwähnt, dass die Angst, von unangenehmen Empfindungen als Geisel gehalten zu werden, den Körper erstarren lässt und den Geist abschaltet. Betroffene müssen deshalb lernen, eine gesunde Beziehung zu ihrem Körper aufzubauen.
In einer Therapie werden sie sich bewusst, dass Emotionen und körperliche Empfindungen eine Funktion, einen Anfang und ein Ende haben. Die Wahrnehmung der Vergänglichkeit ist eine hilfreiche Strategie, um die Auswirkungen der Angst besser zu ertragen.
“Es braucht enormes Vertrauen und Mut, sich selbst das Erinnern zu erlauben.”
Bessel Van der Kolk
Ein psychisches Trauma löst Emotionen aus, die analysiert werden müssen. Betroffene müssen lernen, ihre Gefühle zu beschreiben und ihnen einen Namen zu geben. Dadurch aktiviert sich der mediale präfrontale Cortex und die Amygdala wird entlastet. Sie können so ihren Verstand nutzen, um lähmende Emotionen auszugleichen. Sie müssen ihre Selbstwahrnehmung heilen, um gesunde Reaktionen zu begünstigen.
“Die neurowissenschafliche Forschung zeigt, dass der einzige Weg Gefühle zu verändern darin besteht, uns unserer inneren Wahrnehmung bewusst zu werden und uns mit den inneren Vorgängen anzufreunden.”
Bessel Van der Kolk
Literaturempfehlung
- Das Trauma in dir: Wie der Körper den Schrecken festhält und wie wir heilen können, Bessel van der Kolk, Ullstein 2023
Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.
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Van der Kolk, B. A., & Van der Kolk, B. A. (2020). El Cuerpo Lleva la Cuenta: Cerebro, Mente Y Cuerpo en la Superación Del Trauma. Alianza Editorial.
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Belloch, A. (2020). Manual de psicopatología, vol II.
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American Psychiatric Association. (2014). DSM-5. Guía de consulta de los criterios diagnósticos del DSM-5: DSM-5®. Spanish Edition of the Desk Reference to the Diagnostic Criteria From DSM-5® (1.a ed.). Editorial Médica Panamericana.
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Seijas Gómez, R. (2019). Aspectos neurobiológicos y neuropsicológicos del trastorno por estrés postraumático. Cuadernos de Medicina Psicosomática y Psiquiatría de Enlace, 2013, num. 104, p. 19-28.
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Seijas Gómez, R. (2013). Trastorno por estrés postraumático y cerebro. Revista de la Asociación Española de Neuropsiquiatría, 33(119), 511-523.