Was passiert, wenn du eine Person etikettierst

"Faul, weinerlich, eingebildet, laut, klein, überempfindlich, tollpatschig ..." Hast du selbst schon erlebt, wie schädlich solche Etiketten sein können?
Was passiert, wenn du eine Person etikettierst
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 18. Oktober 2022

Wenn du dich mit einem Wort definieren müsstest, wie würde es lauten? Es stimmt, dass es nicht einfach ist, die Selbstwahrnehmung in einen Begriff zu fassen. Manche tragen jedoch von klein auf “Etiketten” mit sich, die Auskunft darüber geben, wie sie von anderen wahrgenommen werden. Doch was passiert, wenn du eine Person etikettierst?

“Karl ist wie sein Vater, sehr ernst und verschlossen”. “Andrea ist klug, aber nicht sehr gesprächig und Hanna ist unordentlich und frech.” Kinder schon in jungem Alter zu etikettieren, ist alles andere als pädagogisch, doch trotzdem geläufig. Die Etikettierung ist eine Vorverurteilung, die sich in den meisten Fällen tief verankert. Sie äußert Erwartungen an eine Person, die ihre Persönlichkeit prägen.

Im klinischen Bereich ist es auffällig, dass es viele Menschen gibt, denen es nicht schwerfällt, sich selbst zu definieren: “Ich bin ein deprimierter Mensch ohne Ambitionen.” Und in der Tat zeugen ihre Einstellung, ihr emotionaler Zustand und ihr Verhalten davon, aber der Ursprung liegt oft in den schädlichen Botschaften, die den Patienten von ihrer Umgebung eingeimpft werden.

Wenn du eine Person etikettierst, verinnerlicht sie deine Vorurteile und entwickelt selbstbegrenzende Überzeugungen.

Was passiert, wenn du eine Person etikettierst
Fast ohne es zu merken, projizieren wir mit unserer Sprache Etiketten und Erwartungen auf Kinder, die ihnen schaden können.

Wenn du eine Person etikettierst, verändert sich ihre Selbstwahrnehmung

Etiketten sind der primitive Mechanismus, mit dem wir die Realität abgrenzen (vereinfachen). Es ist eine praktische, unverzichtbare Ressource für unser Gehirn, um sich in einer komplexen und diffusen Welt zurechtzufinden. Die Kategorisierung gibt uns ein klares Gefühl der Kontrolle. Es ist, als hätten wir Himmelsrichtungen, an denen wir uns in verschiedenen Szenarien orientieren können.

Aber, und hier kommt das Problem: Wenn wir jemanden bezeichnen, beurteilen wir seine Merkmale gleichzeitig als gut oder schlecht, denn die Sprache ist nicht neutral. Wenn wir eine Person als “toxisch” etikettieren, vermeiden wir vermutlich gleichzeitig den Umgang mit ihr, denn sie ist schädlich. Bezeichnen wir ein Kind als “langsam”, meinen wir damit implizit, dass es sich beim Lernen schwertut.

Wir gehen viel zu leichtsinnig mit dem Etikettieren um: Es handelt sich meist um rasche Reaktionen, die wir dann jedoch eher bereit sind zu bestätigen. Damit versuchen wir, die Kontrolle über die Realität nicht zu verlieren. Der Linguist Benjamin Whorf erklärte, dass die Worte, die wir verwenden, um zu beschreiben, was wir sehen, selten objektiv sind. Meistens sind sie mit Vorurteilen behaftet. Und diese Gewohnheit hat schwerwiegende Folgen: Wenn du eine Person etikettierst, verleugnest du ihre Komplexität, ihr Recht auf Veränderung, ihren Reichtum als menschliches Wesen…

Zerstörung von Selbstkonzepten vs. Pygmalion-Effekt

Wir sprechen über eine wiederkehrende Praxis in unserem täglichen Leben mit Kindern: Immer wieder verwenden wir qualifiziernde Adjektive. Denken wir zum Beispiel an die Mutter oder den Vater, die zu ihrem Kind sagen: “Du bist so eine Nervensäge, mein Schatz, merkst du nicht, dass du ein Nörgler bist und dich ständig über alles beschwerst?” In diesem Satz werden zwei Bezeichnungen deutlich: Nervensäge und Nörgler.

Eine Nervensäge zu sein, kann dem Kind das Gefühl geben, dass seine Bedürfnisse nicht wichtig sind. Seine Selbstwahrnehmung nimmt eine Wendung und könnte selbstabwertend sein. Doch auch das Gegenteil kann der Fall sein. Das zeigt eine bekannte Studie von Dr. Robert Rosenthal und Dr. Lenore Jacobson. In ihrem Experiment teilten sie einer Gruppe von Lehrkräften mit, dass bestimmte Schülerinnen und Schüler in einer ihrer Klassen intelligenter seien als der Durchschnitt (obwohl es keine Beweise dafür gab, dass dies der Fall war).

Am Ende des Schuljahres fanden die Forscher heraus, dass jene Kinder, die sie willkürlich als intelligenter eingestuft hatten, einen um 10-15 IQ-Punkte höheren IQ aufwiesen als ihre Altersgenossen. Der Pygmalion-Effekt und die positive Etikettierung kamen zum Tragen. Die Lehrkräfte gaben dieser Idee, diesem falschen Etikett, das ihnen von den Forschern gegeben wurde, Gültigkeit. Das veranlasste sie dazu, diese Schüler anders zu behandeln. Diese Vorliebe, Aufmerksamkeit und das Vertrauen in sie haben sich schließlich ausgezahlt.

Wenn wir also glauben, dass Etiketten, die uns aufgezwungen werden, wahr sind, bestätigen wir diese durch unsere Überzeugungen und unser Verhalten.

Was passiert, wenn du eine Person etikettierst
In jedem sozialen Umfeld sind Etikettierung und Kategorisierung alltäglich.

Etiketten sind Tunnel, die unsere Realitäten verschließen

Wenn du jemanden etikettierst, kannst du ihn stärken oder abwerten. Aber leider wird die unfreundliche, wenig hilfreiche und unpädagogische Kategorisierung in der heutigen Gesellschaft am häufigsten praktiziert. In unserem täglichen Leben werden wir bereits aufgrund von Rasse, Geschlecht, Klasse und sexueller Orientierung in Schubladen gesteckt. Wir müssen uns jedoch auch noch mit anderen Begriffen auseinandersetzen: “sensibel”, “schwach”, “naiv”, “egoistisch” usw.

Die meisten Etiketten sind schädlich, weil sie mit Vorurteilen und Voreingenommenheit beladen sind. In Wirklichkeit definieren diese Begriffe die Person, die sie äußert, mehr als denjenigen, den sie damit qualifiziert. Denn Personen, die Etiketten verwenden, haben eine sehr eingeschränkte Perspektive der Realität: Sie sehen, was sie glauben, und nicht, wie andere wirklich sind. In ihrem Versuch, die Komplexität der Menschen unter Kontrolle zu halten, verzerren und reduzieren sie die Realität.

Versuchen wir, eine etwas offenere und flexiblere Sicht auf das Leben, die Menschen und die Ereignisse zu haben. Vermeiden wir einfache und schnelle Etikettierungen, seien wir vorsichtig mit der Sprache, die so viel Schaden anrichtet, ohne dass wir es merken. Wir sollten auch versuchen, das ganze Arsenal an Etiketten zu deaktivieren und offen auf andere Menschen zuzugehen. Damit können wir selbsterfüllende Prophezeiungen verhindern.


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  • Eberhardt, J. L., Dasgupta, N., & Banaszynski, T. L. (2003). Believing is seeing: The effects of racial labels and implicit beliefs on face perception. Personality and Social Psychology Bulletin, 29, 360-370.
  • Rosenthal, R., & Jacobson, L. (1992). Pygmalion in the classroom: Expanded edition. New York: Irvington

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