Vom Schmetterling, der dachte, dass er noch immer eine Raupe sei

Vom Schmetterling, der dachte, dass er noch immer eine Raupe sei
Cristina Calle Guisado

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Cristina Calle Guisado.

Letzte Aktualisierung: 13. Dezember 2022

Diese Geschichte der Verwandlung ist die von einem Schmetterling, der glaubte, dass er noch immer eine Raupe sei. Sie erzählt von der Verwandlung und davon, dass sie meist nicht akzeptiert wird. In Wahrheit haben wir manchmal mehr Kraft, als wir bereit sind zu sehen. Wir verschwenden unsere Energie allerdings damit, uns gegen Veränderungen zu wehren. Das tun wir, indem wir unseren Blick auf die Vergangenheit fixieren und versuchen, die Person zu sein, die wir gestern waren, die wir aber heute nicht mehr sind.

„Wogegen du dich wehrst, das bleibt bestehen.“

Carl Gustav Jung

Eine Geschichte der Verwandlung: von der Raupe zum Schmetterling

Vor einiger Zeit kam eine kleine Raupe zur Welt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten kroch sie auf der Erde munter von einem Ort zum anderen. Als sie eines Tages des Kriechens auf dem Boden müde war, entschied sie sich, einen Baum hochzuklettern. Aber nicht irgendeinen Baum, sie wählte einen Baum mit einem großen Stamm und taufrischen Blättern. Einen Baum, unter dem sie schon lange spielte. Die Raupe kletterte und kletterte, doch dann rutschte sie ab, fiel und konnte sich zunächst nicht mehr vorwärtsbewegen. Doch sie kämpfte weiter und Schritt für Schritt, Stück für Stück schaffte sie es, sehr weit hoch zu klettern. Sie kam an einem Ast an, von dem aus sie das ganze Tal sehen konnte. Die Aussicht war wundervoll. Sie konnte andere Tiere, den blauen Himmel mit seinen weißen Wolken und das große, intensiv blaue Meer am Horizont sehen. Auf diesem Ast sitzend atmete die Raupe tief durch. Sie saß dort und sah die Welt um sie herum. Und sie hatte das Gefühl, dass das Leben zu schön war, um wahr zu sein. Während die Raupe zwar müde, aber gleichzeitig für ihr Leben als Raupe dankbar war, wusste sie, dass die Zeit für einen Wandel gekommen war.

„Das größte Geschenk, das du geben kannst, ist das deiner eigenen Transformation.“

Lao Tse

Die Raupe schlief mit einem Gefühl der Ruhe und dem Gedanken ein, dass es wohl ihr Schicksal war, mehr als eine einfache Raupe zu sein. Sie schlief und schlief und ließ einen Kokon um sich wachsen. Eine Hülle, die die Ruhe lange genug gewahrt hatte, um der Raupe Zeit zu geben, zu einem neuen Lebewesen zu werden. Als sie aufwachte, fühlte sie sich in einer schweren Hülle gefangen, die es ihr nicht erlaubte, sich zu bewegen. Sie fühlte, dass etwas Merkwürdiges auf ihrem Rücken gewachsen war. Mit Mühe bewegte sie etwas, das wie riesige blaue Flügel aussah. Dadurch brach die Hülle auf. Die Raupe war keine Raupe mehr, sie war ein blauer Schmetterling geworden.

Blauer Schmetterling

Jedoch war die Raupe für so lange Zeit eine Raupe gewesen, dass sie nicht erkannte, dass sie keine Raupe mehr war. Der blaue Schmetterling kroch also vom Baum herunter, indem er statt der Flügel seine kurzen Beine nutzte. Er trug das Gewicht dieser großen blauen Flügel, ein Gewicht, das seine Kraft aufbrauchte. Der blaue Schmetterling bewegte sich auf seinen Beinen, wie er es immer getan hat. Er glaubte, dass er noch immer eine Raupe sei. Und so lebte er weiter so, als wäre dies tatsächlich der Fall. Doch seine Flügel erlaubten ihm nicht, sich mit so viel Geschicklichkeit wie früher auf dem Boden zu bewegen.

Das Gewicht der Flügel

„Was für die Raupe das Ende der Zeit, ist für den Rest der Welt die Geburt eines Schmetterlings.“

Lao Tse

Der Schmetterling, der davon überzeugt war, noch immer eine Raupe zu sein, verstand nicht, warum das Leben so schwierig geworden war. Des Tragens des Gewichts der Flügel müde, entschied er sich, zum Ast zurückzukehren, an dem er sich verwandelt hatte. Dieses Mal war ihm das Vorankommen, das Hochklettern am Baum unmöglich. Eine Windböe oder irgendein anderes unerwartetes Ereignis drückte ihn immer wieder nach unten. Der Schmetterling, der dachte, dass er noch immer eine Raupe sei, stand also still und blickte hoch auf den Ast, der so weit weg zu sein schien. Er fing verzweifelt an zu weinen.

Ihm näherte sich ein wunderschöner weißer Schmetterling, der sein Weinen hörte. Der weiße Schmetterling ließ sich auf einer Blume nieder und blickte für eine Weile auf den blauen Schmetterling, ohne etwas zu sagen. Als sein Weinen abklang, sagte der weiße Schmetterling: „Was ist passiert?“ „Ich kann den Baum nicht hinaufklettern. Obwohl es mir schwergefallen ist, konnte ich es früher schaffen“,  klagte der blaue Schmetterling. „Aber wenn du diesen Ast nicht hinaufklettern kannst … vielleicht kannst du dann hinauffliegen“,  schlug sein Gesprächspartner vor.

Der blaue Schmetterling, der dachte, dass er noch immer eine Raupe sei, blickte den weißen Schmetterling komisch an. Dann blickte er auf seine eigenen großen, schweren Flügel. So wie an dem Tag, als er sich aus seiner Hülle befreite, bewegte er sie und öffnete sie. Sie waren so groß und wunderschön, mit einer blauen Farbe, die so intensiv war, dass die verwandelte Raupe Angst bekam und sie schnell wieder schloss. Der weiße Schmetterling sagte daraufhin: „Du nutzt deine Beine ab, wenn du deine Flügel nicht benutzt“,  und flog elegant davon, indem er seine Flügel nutzte.

Der Abflug

„Es gibt Entscheidungen, die dein Leben verändern. Und es gibt Leben, die deine Entscheidungen verändern.“

Clara Molina

Der blaue Schmetterling blickte erstaunt auf jede Bewegung des weißen Schmetterlings und dachte über seine Worte nach. In diesem Moment fing er an, zu verstehen, dass er keine Raupe mehr war, dass diese schweren Flügel vielleicht nützlich sein könnten. Der blaue Schmetterling öffnete sie also wieder, und dieses Mal ließ er sie geöffnet. Er schloss seine Augen und fühlte, wie der Wind sie umarmte. Er fühlte, dass diese Flügel nun ein Teil von ihm waren, und er akzeptierte, dass er keine Raupe mehr war. Und deshalb konnte er nicht mehr wie eine Raupe leben, die auf dem Boden kroch – das wurde ihm klar.

Dann öffnete er seine Flügel immer weiter und wurde immer mehr zu einem Schmetterling. Er beobachtete das wunderschöne, fast magische Blau seiner Flügel. Bald erkannte er, dass er flog und sich langsam dem Ast näherte. Das Fliegen war für ihn viel einfacher, als einen Fuß vor den anderen zu setzen, obwohl er seine Technik noch perfektionieren musste. Er entdeckte, dass ihn seine Angst vor dem Fliegen nicht akzeptieren lassen hatte, wer er wirklich war. Eine Raupe, die sich in einen blauen Schmetterling verwandelt hatte.

blauer Schmetterling

Diese Geschichte der Verwandlung ist die von einem Schmetterling, der glaubte, dass er noch immer eine Raupe sei. Es ist die Geschichte eines wunderschönen blauen Schmetterlings mit starken Flügeln, die gegen den Strom fliegen können. Inmitten von Stürmen und starken Winden. Doch er wusste davon lange Zeit nichts.

Die Lektion aus der Geschichte der Verwandlung

„Es ist unmöglich, immer dieselbe Person zu sein, weil wir leben.“

Eloy Moreno

Die Verwandlung von der Raupe zum Schmetterling ist eine der am häufigsten genutzten Metaphern, um über die Anpassungsfähigkeit zu sprechen. Deshalb wurde der Schmetterling als Hauptfigur für diese Geschichte der Verwandlung gewählt: Schmetterlinge sind ein Symbol der Verwandlung und gleichzeitig auch ein Symbol der Zerbrechlichkeit und der Größe.

Diese Geschichte der Verwandlung erinnert uns daran, dass wir in einer sich verändernden, dynamischen Welt leben, dass sie und wir uns ständig entwickeln. Doch manchmal wehren wir uns gegen Veränderungen, obwohl wir die Kraft haben, sie einzuleiten. Wir akzeptieren sie einfach nicht. Vielleicht aus Angst, Scham oder Schuld.

In dieser Geschichte akzeptiert ein wunderschöner und starker blauer Schmetterling nicht, dass er keine Raupe mehr ist. Dadurch kann er sein Leben nicht genießen. Ein Teil von ihm klammerte sich zu sehr an der Vergangenheit fest. Er wollte weiterhin so leben, wie er es vor der Verwandlung getan hat. Es hat etwas gedauert, bis er akzeptiert hat, dass der Wandel Teil seines Lebens ist. Bis er entdeckt hat, wofür er seine Flügel hat und wie er von nun an leben könnte. Dafür brauchte er etwas Hilfe. Das ist beim Menschen nicht anders, denn manchmal sehen andere unsere Stärken viel deutlicher, als wir es selbst tun.


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